Schlagloch: Korruption als Routinegeschäft
■ Von Klaus Kreimeier
Korrupt: „verderbt, verdorben; bestechlich“. Vgl. den Artikel zu „Rotte“. (Etymologie-Duden)
Korruptionsfälle sind heilsam; sie vermitteln ein genaueres Bild über die Funktionsweise von Demokratien. Sie signalisieren, dass entwickelte Gesellschaftsformationen über Scharniere verfügen, die wie geschmiert funktionieren müssen, um für die Wechselfälle der Geschichte gerüstet zu sein und nicht zu klemmen, wenn das Tempo einmal angezogen werden muss. So z. B. im wiedervereinigten Deutschland in den frühen Neunzigerjahren, als Begehrlichkeit und Bestechlichkeit ins Kraut schossen und die Seilschaften hüben wie drüben nach dem Prinzip der Wechselseitigkeit ihre Bereicherung und die Mehrung ihres politischen Einflusses betrieben. Zugleich wurde allen, die die Sachlage nüchtern betrachteten, klar, dass der Laden nur so zu schaukeln und einigermaßen heil ins Ziel zu steuern war.
Korruptionsfälle sind heilsam, weil sie die Tendenz haben, sich selbst zu skandalisieren, und so immer wieder, mit Maßen freilich, zur Selbstreinigung des Gemeinwesens beitragen. In der Anfälligkeit für Chancen, sich unlauter, aber womöglich unerkannt eine Vergünstigung zu verschaffen, erkennt der Bürger – sei er nun Bourgeois oder Citoyen – seine eigenen charakterlichen Defizite wieder. Der öffentlich erörterte Korruptionsfall erinnert ihn daran, dass auch Größe fehlbar, die Demokratie ein labiles Gebilde und er selbst noch einmal davongekommen ist. In den Debatten, die dem Skandal folgen, werden die lädierten Maßstäbe wieder „gerade gerückt“ – was umso notwendiger ist, als in der Realität im Regelfall alles beim Alten und nur ein besonders unpopulärer Sünder, auf den sich alle geeinigt haben, auf der Strecke bleibt.
Für einige Tage jedenfalls triumphiert in den Interviews, den Parlamentsreden, den Leitartikeln – kurzum: in den Medieninszenierungen die Moral, dieses bleiche und so ganz und gar abstrakte Gespenst, das sonst immer vor der Tür warten muss und nur hereingebeten wird, wenn Übereinkunft darüber besteht, dass man sich wieder einmal seiner annehmen muss.
Dieser Selbstreinigungsfaktor ist nicht gering zu veranschlagen. In einer guten Korruptionsdebatte wird zweierlei deutlich: erstens, dass in der Demokratie, wie übrigens auch in der Diktatur, der Hang zur Bestechlichkeit unvermeidbar und bis zu einem gewissen Grade konstitutiv für den reibungslosen Ablauf der Dinge ist. Zweitens, dass Demokratien, anders als Diktaturen, gefährdet sind und sich der Tendenz nach selbst aufheben, wenn sie diesen Hang nicht von Zeit zu Zeit als „Erzübel“ brandmarken und ihm stattdessen erlauben, sich in den ökonomischen und politischen Strukturen festzufressen, ohne dass sich jemand gestört und bemüßigt fühlt, Alarm zu schlagen.
In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft waren Korruptionsfälle stets eine große Stunde der freiheitlichen Presse mit ihrer Neigung, das Böse zu verfolgen, Übeltäter anzuprangern – und den Untergang der Nation an die Wand zu malen, sollten die Übeltäter nicht bestraft, das Böse nicht in seine Schranken verwiesen werden. Davon hat nicht zuletzt die Presse selbst profitiert, denn das intime Verhältnis zwischen moralischer Rigorosität und Auflagensteigerung war, jedenfalls in der heroischen Zeit des Bürgertums, nicht zu übersehen.
Aber auch die Gesellschaften selbst sind im Ganzen gut damit gefahren. Noch die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik ließe sich ohne weiteres als eine Geschichte der Korruptionsskandale und ihrer Aufdeckung schreiben. Es ist kein Zufall, dass die Chronique scandaleuse der alten Bundesrepublik Woche für Woche im Spiegel geschrieben wurde – und dass Rudolf Augstein, zumindest für geraume Zeit, ihr moralischer Linienrichter war. Ebenso ist es kein Zufall, dass mit dem Ende der alten Bundesrepublik und mit den unübersichtlichen Folgen der nationalen Vereinigung auch der Niedergang des Spiegels einsetzte – und mit Focus eine Konkurrenz auf den Plan trat, der alles, nur nicht Rigorismus in moralischen Fragen zuzutrauen ist.
Denn die von den einen beklagte, von anderen akklamierte „große Unübersichtlichkeit“ der Jetztzeit scheint vor allem ein Orientierungsverlust auf dem ehemals so vertrauten Gebiet gut geölter Korruptionsstrukturen und ihrer nicht minder gut funktionierenden Entlarvung zu sein. Wenn nicht alles täuscht, geht allmählich ein Ritual verloren, das unserer Demokratie auf die Beine geholfen und sie einige Jahrzehnte lang gesund und munter gehalten hat.
Gewiss – auch in der alten (West-)Republik gab es schon die Neigung, die stets lupenreine Weste nicht nur als Sonntagsbekleidung, sondern gleichsam als natürliche Nationaltracht zur Schau zu tragen. Sorgenvoll, doch auch mit heimlicher Genugtuung verwies man auf die korrupten Eliten in der unterentwickelten Welt und ihr in der Tat haarsträubendes Treiben. Daran gemessen, schienen die Bonner Society und ihr Wirtschaftsanhang, schien überhaupt der „Bundesdeutsche“ ein Ausbund von Unbestechlichkeit zu sein. Nur dem schärferen Blick konnte nicht entgehen, dass hier Heuchelei im Spiel – und die postkoloniale Raffgier gepäppelter Staatsterroristen mit der hoch zivilisierten, institutionell abgeschirmten Bereicherungssucht in den Industriestaaten keineswegs zu vergleichen war. Doch gerade in diesem Punkt ist, unter den Bedingungen der neuen Unübersichtlichkeit, eine Reduktion der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu verzeichnen – vielleicht auch Gleichgültigkeit, Antriebsschwäche, ein grassierendes Desinteresse, vor dessen Blick die Strukturen des Gemeinwesens sanft verschwimmen und kaum mehr preisgeben, dass sie inzwischen teilweise morsch geworden sind.
Verglichen mit dem Skandal, den noch in den 80er-Jahren die Parteispendenaffäre bescherte, verlieren sich die Manöver des Walther Leisler Kiep im alltäglichen Grau-in-Grau; niemand scheint große Lust zu haben, der Sache wirklich nachzugehen außer der Generalsekretärin der CDU, die verständlicherweise darüber zerknirscht ist, dass 1991/92 eine sauber erkungelte Million an ihrer Partei vorbeigemogelt wurde. Und auch dass Großkonzerne, wie erst kürzlich, ihren gesamten Vorstand abräumen und aus der Schusslinie ziehen, noch bevor die Revolver geladen werden können, hinterlässt allenfalls eine Schleifspur im Run auf die Extraprofite der Globalisierung. Wer, der nicht über interne Daten verfügt, sollte auch unterscheiden können, was im Wirbel der Bankrotts und Fusionen noch Fair Play und was Halsabschneiderei und handfeste Korruption auf höchstem Niveau sein mag?
So schleichen sich Routine und Wahrnehmungsdefizite in den täglichen Korruptionstrott ein. Der einst sehr präzise Begriff der „Mafia“ wurde zum geflügelten Wort, das wir ebenso ahnungsvoll wie gedankenlos auf alles um uns herum beziehen, was uns, meist aus gutem Grund, nicht geheuer scheint. Doch die „mafiosen“ Zustände zum Beispiel in der Fußballbundesliga, die Bereicherungssucht von Spielern, Trainern, Vorständen – all dies trägt eher zur allgemeinen Volksbelustigung bei. Korruption als Amüsement – vielleicht können prekäre Entwicklungen in unübersichtlichen Zeiten nicht anders ertragen werden.
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