Schlagloch Russland-Berichterstattung: Im Zweifel für Zwischentöne

Die Darstellungen der Krim-Krise zeigen, dass glatte Geschichten von Gut und Böse fehlgehen. Putins Politik als illegitim darzustellen, ist falsch.

Schuldiger gefunden, historische Referenz ausgemacht: Putin-Schild auf einer Demo in Berlin. Bild: ap

Als Wladimir Putin ankündigte, er behalte sich eine „humanitäre Mission“ auf der Krim vor, annektierte er einen Begriff, der nur unserer Welt zusteht. Da sind die Ohren empfindlich, sie reagieren auf ein gestohlenes Konzept wie auf einen schrillen Misston. Unser Gehör ist geeicht, es trennt das Statthafte vom Unstatthaften, da gibt es kein Vertun.

Ich habe mich oft gefragt, wie dieses Gehör zustande kommt, diese instinktive Selbstverortung, die es den meisten Menschen erlaubt, zu komplizierten internationalen Krisen im Handumdrehen eine Meinung zu haben. In diesen Tagen lässt sich lernen, wie ein Echoraum entsteht, aus dem es zurückschallt, wie hineingerufen wird, in einer Mono-Ton-Qualität, die man für längst vergangen hielt, in unseren zersplitterten Öffentlichkeiten des 21. Jahrhunderts.

Der politische Journalismus ist auf den Barrikaden und nagelt große Worte an eilig herbeigeschleppte Bretter. Freie Welt, nur hier! Kein München II, no appeasement! Putin-Hitler oder Putin-Goliath, ein Spiegel-Titel wie aus dem Propagandamuseum.

Es gibt Stimmen abseits des Mono-Tons, Zwischenrufe; sie kommen eher von der Seite, von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Wirtschaftsexperten. Der politische Journalismus hingegen neigt stets dazu, sich hinwegtragen zu lassen, dorthin, wo er eigentlich nicht mehr gebraucht wird, weil da schon alle sind, die auf nichtjournalistische Weise Öffentlichkeit prägen und Gehöre eichen.

Presse als Täter und Opfer

Jeder Krieg, jeder Konflikt braucht eine Erzählung, die Gut und Böse definiert, die einordnet, vereinfacht und Interessen bedient. Erst dann setzt sich jene große Maschinerie in Gang, die wie von magischer Hand gesteuert nur noch eine Richtung zu kennen scheint. Der Journalismus ist dabei Täter ebenso wie Opfer.

Denn eigentlich ist es heute schwer geworden mit den glatten Erzählungen: Weil die westliche Politik moralische Maßstäbe und völkerrechtliche Grundsätze mit einer geradezu opulenten Widersprüchlichkeit handhabt. Kosovo, Kroatien, Libyen, Ägypten, Südsudan, Mali, Syrien, Zentralafrika: Ob neue Staaten erlaubt sind, ob ein Referendum Gültigkeit hat, ob ein Putsch legitim ist, eine Intervention gerechtfertigt, eine Bombardierung geboten, all dies ist schlicht eine Frage von Interessen. Und jeder Blogger in der sogenannten Dritten Welt schreibt das ohne Pirouetten.

Es könnte also vielleicht auch bei uns eine gute Zeit sein für unabhängigen Journalismus. Die Rasanz der Ereignisse (oder die Geschwindigkeit, mit der wir sie zur Kenntnis nehmen), die Abfolge von Aufständen, Präsidentenstürzen, ethnisch oder religiös entgleisten Konflikten wäre dann eine Einladung zu etwas mehr Bescheidenheit.

Aktivismus des Mainstreams

Schließlich haben auch andere ihre Erzählungen. Was hier als humanitäre Mission gefeiert wird, kommt in anders geeichten Gehören als schriller Misston an, zum Beispiel als Gier nach Afrikas Rohstoffen unter einem zu kurz geratenen Mäntelchen von Moral. Und nicht einmal der War on Terror gehört uns mehr allein. Geradezu epidemisch erklären jetzt Regierungen muslimischer Länder ihre jeweiligen Gegner zu Terroristen.

Wir leben, was die Erzählungen betrifft, immer mehr in einer polyzentrischen Welt. Das könnte heilsam sein, weil es die einst globale Macht des westlichen Narrativs beschränkt. Es kann auch furchtbar sein: die ultimative Propaganda-Kakofonie. Auch davon spürt man etwas in diesen Tagen, mit allseitigen Angriffen auf Journalisten in der Ukraine, die wie Waffen behandelt werden – es gilt sie zu nutzen oder zu neutralisieren.

Ich plädiere nicht für einen Werterelativismus. Sondern für das Zulassen von Zweifeln, für eine Kultur des Zweifels. Für das Abweichen vom Mono-Ton, für den zumindest versuchsweisen Widerspruch gegen die bei uns hegemonialen Erzählungen. Vor kurzer Zeit wurde auf verschiedenen Foren in den USA und in Europa über den Unterschied zwischen aktivistischem und professionellem Journalismus debattiert. Letzterer reklamiert für sich gern die Neutralität, während der Aktivist bestimmten Interessen und Zielen verpflichtet sei.

Im Fall Ukraine erlebt man gerade den Aktivismus des Mainstreams. Wer sich einem Kollektiv zugehörig fühlt, schreibt zweifelsarm. Nicht zweifelsfrei, aber doch zweifelsarm. In dieser Hinsicht ist der Mainstream und seine herbeifabulierte Freie Welt nur das denkbar größte Kollektiv. Es gibt in diesem Kollektiv stillschweigende Vereinbarungen; sie sind den meisten nicht bewusst und gerade deswegen so wirkmächtig.

Es handelt sich um das unausgesprochen Gemeinsame, um das gefühlte Wo-Sein in der Welt. In diesen Tagen werden alte Vereinbarungen wieder abgerufen: die antisowjetische, die antirussische Verortung des westlichen Lebensgefühls. Vielleicht täusche ich mich; das wäre mir lieber.

Das Problem bei der „Mission“

Solche Vereinbarungen kondensieren ganze Epochen und komplexe Erfahrungen auf einzelne Worte und Bilder, die in massenhafter Komplizität als gültig und passend betrachtet werden. Es mag seltsam klingen, aber ich habe bei Putins Wort von der humanitären Mission aufgemerkt, weil ich gerade an einem Buch über ein afrikanisches Thema sitze. Für ein hiesiges Publikum über Afrika schreiben, das macht notgedrungen sensibel für jedwede Voraussetzung von Schreiben: Welche Worte teile ich überhaupt mit meinen Lesern? Welchen stillschweigenden Vereinbarungen trete ich bei und welchen auf keinen Fall? Werde ich noch verstanden, wenn niemand schwarz ist?

Der Begriff „Mission“ ist aufgeladen mit kolonialer Geschichte. Und gerade deswegen so beliebt. Wegen des Unausgesprochenen, das da mitschwingt – und für das doch niemand haftbar zu machen ist. Es handelt sich schließlich um eine humanitäre Mission.

Putin hingegen ist haftbar zu machen. Denn für ihn gilt die unausgesprochene Vereinbarung nicht. Wir wollen ihn nackt und hässlich haben. Denn er ist die andere Seite.

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