Schlafstörung durch Tracking: I can't get no sleep
Vermehrt suchen sich Menschen wegen einer neuen Schlafstörung Hilfe: Orthosomnia. Kriegen kann diese aber nur, wer seinen Schlaf trackt.
Es gibt wenig, was der Mensch wirklich muss. Essen. Trinken. Schlafen. Denn isst, trinkt oder schläft er nicht, stirbt er. Nun könnte man meinen, dass der Mensch – existiert er immerhin schon mehrere Millionen Jahre – Profi auf diesen Gebieten ist. Stattdessen macht er sich selbst da die größten Probleme.
Eine neue Studie, die im Journal of Clinical Sleep Medicine veröffentlicht wurde, zeigt eine neue Störung: Orthosomnia. Darin stecken zwei griechische Wörter: „ortho“, was „richtig, korrekt“ bedeutet und „somnia“, „Schlaf“. Interessant an dieser Schlafstörung: Es bekommen sie nur Personen, die einen Schlaf- oder Fitnesstracker nutzen. Diese Tracker, meist als Armband getragen, messen über Sensoren den Puls und die Bewegung und erstellen so Analysen der jeweiligen Schlafphasen.
„Es gibt eine steigende Anzahl Patient*innen, die sich selbst aufgrund ihrer Tracking-Daten Schlafstörungen wegen unzureichender Schlafdauer oder wegen Perioden leichten oder ruhelosen Schlafens diagnostizieren und sich deswegen in Behandlung begeben“, heißt es in der Studie. Dabei beriefen sie sich nicht etwa auf ihr Befinden nach dem Aufstehen, sondern auf das Ergebnis, das die jeweilige App ausgespuckt hat.
Die Studie schildert etwa den Fall eines 40-jährigen Patienten. Der suchte eine Behandlung, weil er schnell gereizt war, sich schlecht konzentrieren konnte und während des Tages müde war. Dies sei nur der Fall, wenn sein Tracker ihm anzeige, er habe weniger als acht Stunden geschlafen. Er schilderte, jeden Abend Druck zu haben, dass seine App ihm morgens auch anzeigt, dass er acht Stunden fest geschlafen habe.
Das Ziel seiner Behandlung sollte also sein, dass er jede Nacht acht Stunden erholsamen Schlaf bekommt. Er beschrieb, dass er neben seinen 40-Stunden-Job oft auch am Wochenende und am Abend an weiteren Projekten arbeiten würde, und zwar oft bis er ins Bett ginge. Das Handy liege neben ihm im Bett, weil er auch nachts noch E-Mails bekäme.
Selbstliebe? Nö, Leistung!
Die neue Schlafstörung ist eine absurde Folge zweier sich gegenseitig verstärkender Phänomene unserer Zeit. Das eine ist die Tatsache, dass ein Gros der Menschen das Gefühl für sich und den eigenen Körper verloren hat. Sie wissen nicht, was ihnen guttut, was ihnen schadet, ignorieren Warnsignale, arbeiten über ihre Ressourcen. Das andere ist der Drang, den Körper, der nicht so funktioniert, wie er soll (siehe Tatsache 1) optimieren zu wollen. Nicht etwa aus Selbstliebe oder -fürsorge, sondern damit er endlich die Leistung bringt, die die Menschen gerne hätten.
Dafür brauchen sie – weil Körpergefühl nicht existent – Hilfe von außen, wie eben durch jene Tracking-Apps. Die absurde Steigerung ist nun, dass vermutlich eigentlich gesunde Menschen sich für krank halten, weil eine App ihnen entsprechende Daten ausspuckt. Oder eine Schlafstörung entwickeln vor lauter Stress, bloß auch perfekt und hoch effektiv zu schlafen.
Orthosomnia, das Kind einer kapitalistischen Gesellschaft. Und zwar nicht das erste. Schon 1997 prägte der amerikanische Arzt Orthorexie, eine Essstörung, bei der der Drang nach einer möglichst gesunden und hochwertigen Ernährung krankhaft wird.
Dabei gibt es für beides, für Essen und Schlaf, ein perfektes Gadget. Eines, das einem mit kostenlosen Pushnachrichten wie Müdigkeit, Hunger, Übelkeit, fahler Haut, Schwäche oder Kopfschmerzen ziemlich genau sagen kann, was gut ist und was nicht: der Körper. Die Verbindung zu ihm mag nicht die beste sein. Aber mit Feintuning und dem ein oder anderen Update lässt sie sich wieder herstellen.
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