piwik no script img

Schießereien in BerlinZuwachs in der Unterwelt

Was steckt hinter den vielen Schießereien der letzten Monate? Die Polizei spricht von Schutzgelderpressung, aber Fachleute vermuten etwas anderes.

Einschusslöcher in der Scheibe: Kriminaltechniker der Polizei sichern Spuren vor einer Fahrschule in Reinickendorf Foto: Michael Ukas/dpa/picture alliance

Sieben Filialen einer Fahrschule betreibt ein türkeistämmiger Geschäftsmann in Berlin – auf gleich vier davon haben Unbekannte innerhalb weniger Wochen Schüsse abgefeuert. An den Gebäuden in Reinickendorf, Gesundbrunnen und Siemensstadt sind Einschusslöcher zu sehen, die Polizei ermittelt.

Es sind nicht die einzigen Vorfälle mit Schusswaffen in den vergangenen Monaten. Immer wieder wird auf Berlins Straßen, Plätzen und in Parks scharf geschossen. Oft bleibt es bei einem Sachschaden, weil die Täter auf Geschäfte und Wohnhäuser zielen. Aber nicht nur: Im November starb ein Mann, nachdem er vor einem Imbiss in Fennpfuhl niedergeschossen worden war. Bei weiteren Taten gab es Verletzte, einige von ihnen lebensbedrohlich.

Aber wird überhaupt mehr geschossen als sonst? Wer sind die Täter und welche Motive haben sie? Und woher kommen die Waffen?

Zumindest die erste Frage lässt sich verlässlich beantworten. Aktuelle Statistiken der Berliner Polizei belegen, dass es sich nicht nur um einen gefühlten Anstieg von Schießereien handelt: Die Behörde hat seit Jahresbeginn mehr als 1.000 Fälle von illegaler Schusswaffenverwendung registriert. Dabei wurde in knapp der Hälfte der Fälle auch tatsächlich geschossen: rund 460 Mal.

Es geht um viel Geld und da werden Reviere neu aufgeteilt zwischen einzelnen Gruppen der organisierten Kriminalität

Stephan Weh, Gewerkschaft der Polizei

Das sind bereits jetzt deutlich mehr Schüsse als im gesamten Jahr 2024, in dem 363 Fälle gezählt wurden. Und schon da war Berlin im bundesweiten Vergleich das Land mit den meisten Schüssen im Verhältnis zur Bevölkerung. Laut Bundeskriminalamt gab es in Berlin 9,9 Fälle pro 100.000 Einwohner*innen, gefolgt vom Saarland (8,8) und Hamburg (8,3).

Was die Hintergründe betrifft, ist die Lage jedoch weniger eindeutig. Die Schießereien seien Ausdruck von eskalierenden Revierkämpfen, erklärte etwa Stephan Weh, Landeschef der Polizeigewerkschaft GdP, im RBB: „Es geht um viel Geld, und da werden Reviere neu aufgeteilt zwischen einzelnen Gruppen der organisierten Kriminalität.“

Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik Meisel hingegen sagte im November im Abgeordnetenhaus, es handele sich „ganz überwiegend um Schutzgelderpressung gegenüber Gewerbetreibenden“. Die dahinterstehenden Strukturen und Akteure seien der Polizei bekannt. „Sie stehen unter engmaschiger Beobachtung und sind Ziel intensiver Ermittlungen“, so Slowik Meisel.

Die Erklärungen greifen zu kurz

Aber im Gespräch mit Fachleuten zeichnet sich ab: Diese Erklärungen greifen wohl zu kurz. Der Kriminologe Klaus von Lampe von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) etwa beobachtet zwar auch einen „ungewöhnlich häufigen Gebrauch“ von Schusswaffen in Berlin in diesem Jahr. Er geht aber nicht davon aus, dass es sich dabei um klassische Revierkämpfe oder herkömmliche Schutzgelderpressung handelt. „Was in den Medien gesagt wird, dass konkurrierende Gruppen aus Istanbul türkischsprachige Gewerbetreibende in Berlin erpressen, kann ich mir gut vorstellen“, sagt von Lampe, der seit mehr als 20 Jahren zu organisierter Kriminalität in Berlin forscht. Allerdings sei Schutzgeld das falsche Wort.

„Auch hier geht es um Geld“, betont er. „Aber Schutzgelderpressung bedeutet eigentlich, dass mit der Zahlung das Risiko von Erpressung durch andere Kriminelle erledigt ist, weil man unter dem Schutz des Erpressers steht.“ Aber dafür brauche es im kriminellen Milieu gefestigte Machtstrukturen und eine klare Zuordnung, wer wo das Sagen hat – und das sei bei Gruppen, die aus dem Ausland agieren, nicht der Fall. „Ich glaube nicht, dass jemand, der in Istanbul sitzt, in Berlin mitreden kann.“

Das Vorgehen der Täter ähnele eher dem Prinzip von Einbrüchen, sagt von Lampe: „Die Täter wissen, wo es etwas zu holen geben könnte.“ Das sei ein typisches Muster: Kriminelle Gruppen belangen Landsleute im Ausland, die viel Geld zu haben scheinen. „Man spricht die gleiche Sprache, man weiß vielleicht sogar, wo die Verwandten der Betroffenen zum Beispiel in der Türkei wohnen. Außerdem vermuten die Täter, dass ihre Opfer in Deutschland eher isoliert sind, nicht schnell zur Polizei gehen oder Rückhalt in illegalen Strukturen haben.“ Dadurch dächten die Täter wohl, ein leichtes Spiel zu haben, erklärt der Kriminologe.

Recherchen des Tagesspiegels stützen diese These. Dort heißt es aus Ermittlerkreisen, mindestens fünf Banden hauptsächlich aus Istanbul seien nun europaweit aktiv, deren Handlanger teils extra aus der Türkei einreisten, um in Deutschland und anderen Ländern Geschäftsleute zu erpressen und einzuschüchtern.

Kriminelle, die ihren Sitz in Berlin haben, würden eher nicht so rücksichtslos vorgehen

Klaus von Lampe, Kriminologe

Für Klaus von Lampe erklärt dieser Hintergrund auch den Anstieg von Schießereien. „Kriminelle, die ihren Sitz in Berlin haben, würden eher nicht so rücksichtslos vorgehen“, sagt der Forscher. „Das ist eine Regel in kriminellen Milieus: Schüsse erregen zu viel Aufmerksamkeit. Lieber vermeidet man Gewalt und versucht, Konflikte friedlich beizulegen. Auseinandersetzungen sind unheimlich kostspielig und erhöhen das Risiko der Strafverfolgung enorm.“

Darüber hinaus glaube er auch nicht, dass die Gruppen aus Istanbul versuchen, in Berlin über die gezielten Erpressungsaktionen hinaus Fuß zu fassen. „Wenn das der Fall wäre, würden sich die bereits etablierten Akteure vermutlich heftig zur Wehr setzen“, sagt von Lampe.

Gewalt als Dienstleistung

Mit den gezielten Aktionen der kriminellen Gruppen könnte unterdessen ein Phänomen nach Berlin schwappen, das man in anderen EU-Ländern wie Schweden bereits gut kennt: „Violence as a service“, also Gewalt als Dienstleistung. Einschüchterungen wie die Schüsse auf Geschäfte oder Wohnhäuser lagern die Banden gegen Bezahlung aus. „Häufig werben sie junge Täter an, die dann Drohungen, Angriffe oder Tötungen ausführen. Die Anwerbung erfolgt oft über Online-Plattformen oder Messenger-Dienste“, schreibt das Bundeskriminalamt (BKA) dazu.

Woher die Waffen stammen, die sie dann für ihre Taten verwenden – das ist schwer zu sagen. Laut Berliner Polizei ist „ein Großteil der in der Stadt beschlagnahmten illegalen Schusswaffen teilweise aus der Türkei nach Deutschland gelangt“. Weitere Quellen liegen nach Einschätzung des BKA in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, wo auch 30 Jahre nach dem Krieg funktionierende Schusswaffen weit verbreitet und leicht verfügbar seien. Hinzu kommen Diebstähle, illegale Nachbauten, Umbauten von Schreckschusswaffen und, bislang in geringem Maße, Waffen aus dem 3D-Drucker.

Seit Mitte November geht die Berliner Polizei mit einem massiven Aufgebot gegen die Verbreitung von Schusswaffen vor. Dafür wurde eine sogenannte „Besondere Aufbauorganisation“ (BAO) gegründet. In dieser „BAO Ferrum“ arbeiten Po­li­zis­t*in­nen verschiedener Bereiche zusammen und führen etwa Razzien oder Verkehrskontrollen durch oder bewachen Geschäfte. Dabei wurden bislang mehr als 4.000 Personen kontrolliert, fast 3.000 Fahrzeuge überprüft und mehr als 3.000 Personen vorübergehend festgenommen, teilt die Polizei mit. Eine Bilanz der dabei gefundenen Waffen gibt es nicht, allerdings meldet die Polizei immer wieder einzelne Erfolge.

Klaus von Lampe begrüßt das Vorgehen der Polizei: „Es darf keine Spielräume beim Waffenbesitz geben. Jede Verwendung von Waffen, ob Drohung oder tatsächlich Schussabgabe, muss konsequent und mit höchster Priorität geahndet werden.“

Eine weitere Eskalation in Berlin befürchtet er allerdings nicht. „Eine Gewaltspirale ist nicht im Sinne der hier etablierten Kriminellen.“ Er vermute, dass die „Berliner Unterwelt“, die sich seit Jahrzehnten untereinander arrangiert habe, die Füße stillhalte. „Wahrscheinlich lehnen die sich in diesen Tagen zurück und warten, bis die Polizei die Situation wieder beruhigt hat“, sagt der Kriminologe.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Berliner Weiße mit Schuss?



    Wie der Artikel schon andeutet: vergessen wir die Kriminalität auf den unauffälligeren Bühnen nicht.

  • Wenn in einer Stadt wie Berlin, nicht die Gesetze nach dem Gesetzbuch verfolgt werden, sondern man Ausreden ala das sind die Guten, das wäre aber Rassismus, das ist politisch nicht opportun entschuldigt werden, darf man sich nicht wundern.



    Aber es ist ja noch Platz nach oben. Bei Morden pro 100.000 Einwohnern liegt Berlin ja nur an 2. Stelle. Der Wert ist 1. Der Deutschlandsieger mit 1,1 ist Bremen ( Zahlen tl. Google ). Aber bis Washington DC ist es noch weit, da liegt der Wert bei 27,x.

    • @Donni:

      In Europa liegt wohl Stockholm ganz vorne, also lehnen wir uns bestimmt erstmal zurück.



      Was hat man damals über "Last Night in Sweden" von Trump gelacht. Jetzt nutzen die Banden dort Kriegswaffen.

  • "Polizei spricht von Schutzgelderpressung, aber Fachleute vermuten etwas anderes."



    Die Polizei wird demnach nicht mehr zu den Fachleuten bei der Verbrechensbekämpfung gezählt?

  • Ich kann mir nicht helfen, aber es klingt als ob die Polizei und die türkische Gemeinschaft das Ganze eher als Lokalkolorit und Folklore begreift als als gefährliche Kriminalität.