Schallplattenladen auf dem Land: Es muss sich drehen
Ulf Karge verkauft seit 30 Jahren im brandenburgischen Kyritz Schallplatten. Mit einem neuen Preis für Plattenläden wird das nun vielleicht gewürdigt.
H übsch hier im brandenburgischen Kyritz. Die Fachwerkhäuser rund um den Marktplatz sehen gepflegt aus. Bluhm’s Hotel & Restaurant, das sich hier einreiht, bietet gutbürgerliche Küche, so wie man sich das vorstellt in einem ländlichen Landkreis wie hier Ostprignitz-Ruppin. Schnitzel mit Ei oder Entenkeule mit Klößen und Rosenkohl zum Beispiel.
Von Berlin aus fährt man mit dem Zug etwa eineinhalb Stunden nach Kyritz. Umsteigen in Neustadt (Dosse), dann geht es weiter mit dem Bummelzug. Und wenn sich die Bahn den schon leistet, bloß um Kyritz mit dem Rest der Welt zu verbinden, gibt es in dem Städtchen mit etwas über 9.000 Bewohnern sogar gleich zwei Bahnhöfe, die angefahren werden.
Zu einer der Hauptattraktionen in Kyritz gelangt man am leichtesten, wenn man an der Endstation der Bummelbahn aussteigt. Von dort sind es nur ein paar Meter, bis man bei Kontor Records anlangt, „Brandenburgs ältestem Plattenladen“, wie es am Eingang heißt. Das eigentlich Sensationelle an dem ist vielleicht aber weniger, dass er mit seinen 30 Jahren auf dem Buckel der älteste in diesem Bundesland ist, sondern dass es ihn überhaupt gibt, besser gesagt: überhaupt noch gibt.
Wie das sein kann, ausgerechnet hier in Kyritz an der Knatter, wollten auch schon andere Medien herausfinden. Ulf Karge, der Betreiber des Ladens, hat die gesammelten Berichte, die bereits nach dem 20. Jubiläum seines Ladens zuhauf erschienen sind, griffbereit bei sich hinter der Ladentheke. Auch rund um den 8. August dieses Jahres, an dem sein Geschäft den 30. Geburtstag gefeiert hat, habe er wieder jede Menge Interviews geben müssen. Und zuletzt wollten auch ein paar von ihm wissen, ob er sich für einen dieser neuen Preis beworben habe, den die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, nun ausgelobt hat. Natürlich hat er das. Und wenn er einen gewonnen haben sollte, wird er bei der Preisverleihung am 1. Dezember in Köln sein.
Der Preis
Dass die Schallplatte mit Kultur zu tun hat, liegt auf der Hand. Und damit tun das eben auch die Läden, wo man die Platten im besten Fall her hat: die Schallplattenfachgeschäfte. Und die sollen nun mit dem Emil gewürdigt werden. Am 1. Dezember wird dieser deutsche Preis für Schallplattenfachgeschäfte erstmals verliehen. Seinen Namen hat der Preis von Emil Berliner, dem Erfinder der Schallplatte und des Grammophons.
Das Geschäft
In den Nullerjahren war der Absatz von Vinyl kaum noch messbar. Dann ging er langsam nach oben. 2023 wurden in Deutschland immerhin wieder 4,6 Millionen neue Schallplatten verkauft. Zum Handel mit Second-Hand-Vinyl gibt es keine Zahlen. Insgesamt wächst die Musikindustrie hier seit Jahren wieder. Der mit Abstand größte Umsatz mit einem Marktanteil von über 75 Prozent wird mit dem Streamen von Musik erzielt. Der von Vinyl lag 2023 bei sechs Prozent.
„Emil“ nennt sich dieser Preis, benannt nach Emil Berliner, dem Erfinder der Schallplatte. In vier Kategorien wird dieser vergeben. Eine Jury wird einmal die 13 besten Plattenläden in Deutschland mit einem Preisgeld von je 15.000 Euro beglücken. Des Weiteren werden je 25.000 Euro an einen Plattenladen verliehen, der sich durch ein innovatives Konzept auszeichnet, eine ausnehmend interessanteste Neugründung ist oder sich in einer besonders strukturschwachen Region befindet. Bis zu drei unprämierte Preise in Form eines Gütesiegels werden außerdem an Läden vergeben, die es im vergangenen Jahr auf einen Umsatz von mindestens einer Millionen Euro gebracht haben.
Claudia Roth, Kulturbeauftragte des Bundes
Konzipiert hat den Emil im Auftrag des BKM der Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen, der in Berlin sitzt. Dessen Geschäftsführer Jörg Heidemann sagt, die Idee für so einen Preis gäbe es schon länger und gehe bereits auf Claudia Roths Vorgängerin in ihrem Amt als Kulturbeauftragte des Bundes zurück, auf Monika Grütters von der CDU, die gesagt haben soll, dass Plattenläden selbstverständlich genauso Orte kultureller Begegnung seien wie Buchläden. Bei Claudia Roth klingt das ganz ähnlich, wenn sie die Notwendigkeit eines Preises wie dem Emil so begründet: „Plattenläden sind wichtige Kulturorte und soziale Orte der Begegnung und des Austauschs.“
Heidemann findet, der Preis sei zumindest ein Start, damit Plattenläden vielleicht einmal als ähnlich wichtig, auch im Kampf gegen die Verödung der Innenstädte, angesehen werden wie Buchläden. Lesern oder Leserinnen, die das gerade lesen, dabei Musik bei Spotify hören, keinen Plattenspieler besitzen und deswegen gar keine Schallplattenfachgeschäfte wahrnehmen, sei gesagt: Allein in Berlin gibt es rund 100 von ihnen. Und wenn eines von ihnen verschwinden muss, etwa weil es sich die gestiegene Miete nicht mehr leisten kann, gibt es medial jedes Mal einen großen Aufschrei. Es wird ihnen also bereits eine gewisse Bedeutung zugeschrieben. Der Emil soll diese aber noch einmal ausdrücklich betonen.
Plattenläden seien heute auch etwas ganz anderes als vielleicht noch vor 20 Jahren, meint Heidemann. „Damals gab es noch den muffligen Verkäufer, der sich vielleicht mal herabgelassen hat, mit dir zu sprechen. Das ist jetzt komplett anders. Da gibt es beispielsweise Plattenwaschanlagen in den Läden und es werden DJ-Workshops angeboten.“ Und er sagt, der Plattenladen, der am Ende einen Emil samt 25.000 Euro in der Kategorie „Innovation“ bekomme, werde unter Garantie ein „Ort der Begegnung“ sein, der „wahnsinnig viel und ein diverses Kultur- und Konzertprogramm anbietet und sich um die lokale Musikszene kümmert“.
Ulf Karge macht sich da keine Illusionen, den Innovations-Emil wird er bestimmt nicht bekommen. Konzerte im Plattenladen, wie es das in Hamburg oder Berlin gibt, veranstaltet er nicht. Und wer seine Platten waschen möchte, der soll sich halt eins seiner Vinylwaschgeräte kaufen, die er anbietet.
Aber in der Kategorie „strukturschwache Region“ rechnet er sich gute Chancen aus. Die nächstgelegenen Plattenläden von hier aus gesehen gebe es erst wieder in Berlin, sagt er, vielleicht noch einen in Rostock. Aber ansonsten ist außer ihm weit und breit niemand. Somit kämen seine Kunden auch aus Stendal, Salzwedel, Eberswalde, Lenzen oder Brandenburg an der Havel angereist, es gäbe da regelrecht einen „Plattenladentourismus“.
Die Historie von Kontor Records ist ziemlich speziell und Spuren seiner Geschichte sind teilweise noch im Laden sichtbar. Begonnen hat er nämlich einst als reiner DJ-Plattenladen. Eine Ecke des Raums, wo in einzelnen Fächern Techno- und House-Maxis einsortiert wurden, zeugt davon. Auch wenn die für den Verkauf heute im Laden so gut wie gar keine Rolle mehr spielten, so Karge.
Ulf Karge
Er erzählt, was das damals für ein herrlicher Wahnsinn gewesen sei, als die Mauer weg war und in Berlin die Technopartys stiegen. Mit seinen Kumpels sei er immer von Kyritz nach Berlin und dort in den Tresor, den Walfisch und wie die Clubs sonst so hießen, gegangen. Und auf Shoppingtouren in die Plattenläden, vorneweg im berühmten Hard Wax, wo auch die bekannten DJs ihre Platten kauften. Aber irgendwann habe er sich gedacht, diese ewige Fahrerei nach Berlin nervt, er macht jetzt einfach seinen eigenen DJ-Plattenladen in Kyritz auf. „Die Leute reisten damals selbst von Berlin hierher, um die neuesten House- und Technoplatten zu kaufen“, sagt er, „alle DJs aus nah und fern kamen zu mir. Ich hab die Diskotheken in Großderschau und Perleberg beliefert, die es heute alle nicht mehr gibt. Ich habe Platten zu DJs nach Hamburg geschickt.“
Selbst in dieser Phase von Kontor Records habe er aber auch schon Sachen speziell für die Kyritzer gehabt, sagt er. Kuschelrock-CDs, Schlager, solche Sachen. Was im Hard Wax in Berlin nicht zu finden ist. In der Großstadt ist es bis heute eher so, dass bestimmte Läden bestimmte Bedürfnisse maßgeschneidert befriedigen. Der Reggae-Fan geht in den Reggae-Laden und wer es eher mit Soul und Jazz hat, findet auch dafür einen Shop ganz nach seinem Geschmack. Die totale Spezialisierung, so Karge, konnte er sich auf dem Land aber einfach auch schon damals nicht leisten.
Dieser Pragmatismus auf Kosten der Coolness hat jedoch mit dazu beigetragen, dass es Kontor Records nach 30 Jahren immer noch gibt, während in Berlin dagegen außer dem Hard Wax alle spezialisierten DJ-Plattenläden längst dichtgemacht haben. „Nach 20 Jahren war es vorbei mit DJ-Vinyl“, sagt Karge, „heute interessiert sich kein Mensch mehr Maxis.“ Für ihn selbst ist das ganz persönlich eine schreckliche Entwicklung und einer der Gründe, warum er sein Interesse an Clubbesuchen in Berlin komplett verloren habe. Alle würden dort nur noch mit CDs auflegen. Er selbst, der nebenbei auch als DJ arbeitet, werde dagegen immer dem Vinyl treu bleiben.
Was dagegen wieder ungefähr seit dem Zeitpunkt verstärkt nachgefragt wird, an dem Karge den Niedergang des DJ-Vinyls festmacht, ist die Schallplatte im Album-Format. „Deswegen spreche ich auch nicht von einem Vinyl-, sondern einem Album-Revival“, so Karge. „Die Schallplatte war ja im Bereich House und Techno nie weg, nur für Vinyl-Alben hat sich genau in deren Boomzeit niemand mehr interessiert. Erst seit ein paar Jahren ist das anders.“
Ulf Karge
Nach diesem „Tiefpunkt“ für Kontor Records als DJ-Laden verwandelte er sich langsam zu dem, was er heute ist. Er führt auch CDs und DVDs, vor allem aber Vinyl in allen nur erdenklichen musikalischen Stilrichtungen. „Meine Kundschaft hat sich vor zehn Jahren komplett ausgetauscht“, so Karge. „Statt den DJs kam der typische Albumkäufer zurück. Der gesetzte Herr, mitten im Leben, die Kinder sind bereits aus dem Haus, im Job hat er etwas erreicht. Was macht man nun mit der Freizeit? Ach, man könnte doch mal wieder eine Platte auflegen.“ Es würden gerade immer mehr werden, auf die diese Beschreibung zutrifft und den Weg zu ihm fänden.
Von der Auswahl her ist Kontor Records also schon anders als die Plattenläden in Berlin. „Die schönsten Kinderlieder“ von Helene Fischer führt dort kaum einer – dafür gibt es schließlich Amazon oder Medienmärkte. Bei Karge sind sie dagegen so prominent platziert wie die wunderbaren Platten, die Manfred Krug in der DDR für Amiga aufgenommen hatte. Die landen in Berlin oft in den Billigkisten, Karge präsentiert die vergleichsweise teuren Nachpressungen.
Gebrauchtes Vinyl hat er sowieso kaum. In einer Box auf dem Boden stehen ein paar Platten und gerade hört er nebenbei eine Amiga-Pressung einer Platte von Whitney Houston durch, die dann auch in dieser landen wird. Läden mit viel Secondhandware würden aussehen wie Antiquariate, so Karge, „das war noch nie mein Ding, da würde ich ja nur in der Vergangenheit leben. Ich habe eben auch als DJ-Plattenladen geöffnet, da ging es immer darum, das Neueste zu haben.“
Karge musste aber nicht nur den Umbruch von der DJ-Maxi auf das Album verkraften, sondern auch noch auf andere Veränderungen im Käuferverhalten reagieren. Sein Laden ist täglich außer sonntags geöffnet. Er sagt aber selbst, dass sich manchmal tagelang kein einziger Kunde bei ihm blicken lasse, wen also erwarte er bereits um 10 Uhr bei sich im Laden?
Darum gehe es gar nicht, sagt er, die Betreuung der Kunden würde inzwischen kaum mehr als fünf Prozent seiner Arbeit ausmachen. Aber er sei nun von morgens bis abends damit beschäftigt, alles mögliche online zu erledigen. Neue Ware ordern, vor allem Bestellungen abarbeiten. „Ohne Internet geht es heutzutage für Plattenläden nicht mehr“, sagt er. Etwa 80 Prozent seines Umsatzes würde er mit Onlinebestellungen und Verkäufen über Plattformen wie Ebay machen.
Er liest ein paar aktuelle Order vor, jemand hat die neue Platte von Linkin Park gekauft, eine „Best of Sade“ wurde bestellt und dann hätte noch jemand gern eine Single von Abba aus dem Jahr 2019 als Picture Disc. Um die 30 Bestellungen am Tag würde er täglich abarbeiten und die Ware jeden Nachmittag selbst mit dem Fahrrad zur Post fahren. In der Zeit wird der Laden einfach geschlossen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass er früher hinter dem Tresen Maxis von Underground Resistance an coole DJs verkauft hat und heute „Best of “-CDs zur Post fahren muss, das macht ihm nichts aus. „Du musst mit der Zeit gehen, sonst gehst du mit der Zeit“, sagt er. Andere Läden hätten geglaubt, sie könnten auch ohne das Internet überleben, „die sind jetzt alle weg“. Sein Überlebenskonzept als Plattenladenbetreiber: „Du musst dich immer wieder neu anpassen, dich neu erfinden.“
Da er doch meinte, manchmal bekäme er tagelang keine Kunden in seinem Laden zu Gesicht, hat man selbst also großes Glück, als während des Besuchs bei Kontor Records gleich zwei solcher Exemplare auftauchen. Einer stellt sich als Stammkunde vor, der etwa zwei Mal in der Woche vorbeischaue und vor allem Musik-DVDs und Blue-Rays kaufe. Für ein Gespräch hat er aber gerade gar keine Zeit, er wolle nur kurz Karge nachträglich zum Geburtstag gratulieren, der eben 54 Jahre alt geworden ist. Ein anderer aber, ein echter Kyritzer, kommt rein und blättert gleich eifrig das Fach mit den Metal-Platten durch und interessiert sich für ein Album von Ozzy Osbourne. Auch ihn kennt Karge gut, schon dessen Vater habe er Platten verkauft, sagt er, nun ist auch der Sohn Vinyl-Fan. „Die Schallplatte ist einfach das beste Medium, um Musik zu hören“, sagt dieser.
Den Emil und damit die Chance für Läden wie Kontor Records, für ihren Durchhaltewillen im Plattenladenbusiness ausgezeichnet zu werden, wird es mit Sicherheit nicht nur in diesem, sondern mindestens auch noch im nächsten Jahr geben, so Jörg Heidemann, ganz unabhängig von der gerade unsicheren Haushaltslage. Dass sich für die erste Emil-Verleihung nur Läden beworben konnten, die mindestens 50 Prozent Neuware anbieten und damit keine reinen Secondhandläden, das könne sich beim nächsten Mal schon wieder ändern. Ja, auch Secondhandläden können großartig sein, es gäbe aber gute Gründe für die diesjährige Regelung. Denn schließlich fließe nur über den Verkauf von Neuware Geld an Musiker und Musikerinnen, was man unterstützen wolle. Und Vinyl bleibt Nische, sagt er, mit einem Anteil von sechs Prozent am Gesamtumsatz des Musikmarktes aber eine relevante mit weiterhin steigender Tendenz.
Diese Tendenz ermöglicht auch Karge weiterhin die Existenz als Plattenladenbetreiber. Er kann sich auch sicher sein, wieder viele Presseanfragen zu bekommen, falls er tatsächlich einen Emil gewinnt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!