Schach-Weltverband in der Kritik: Kinderkirmes und Krieg
Der Verbandspräsident ermöglicht eine unwürdige Punktejagd auf dem Weg zum WM-Titel im Schach. Ein Putin-Pudel ist der Russe obendrein.
H artnäckig hält sich das Gerücht, Schach sei ein distinguierter Sport unter ehrbaren Menschen. Wenn in einer Serie zwei Figuren in ein ernsthaftes, weitreichendes Gespräch über weltliche Dinge zu führen beabsichtigen, finden sie sich gerne mal an einem Brett ein und drehen Figuren zwischen Zeigefinger und Daumen. In der tatsächlichen Schachwelt hingegen geht es aktuell zu wie auf einer Kinderkirmes.
Das liegt am Weltverband FIDE. Nächstes Jahr findet das Kandidatenturnier statt, in dem ermittelt wird, wer als Nächstes gegen den amtierenden Champion Ding Liren um den WM-Titel spielt. Acht Plätze stehen dazu zur Verfügung. Sechs davon sind schon vergeben, um die letzten beiden streiten sich gerade noch eine Handvoll Spieler, indem sie sich gegenseitig in die Nasen zwicken.
Einer der beiden offenen Startplätze wird über den Weltranglistenrang vergeben. Grundlage für die Platzierung ist die ELO, eine Kennzahl für die Spielstärke. Die längste Zeit des Jahres schien klar, dass dieser Platz an Alireza Firouzja gehen würde, bis dieser sich zum Jahresende einen üblen Hänger erlaubte und einiges an Rating-Punkten einbüßte. Anfang Dezember schien dieser Spot wieder vakant, und lange sah es so aus, als könnte Wesley So das Rennen machen.
Doch wie aus dem Nichts entstanden plötzlich auf der ganzen Welt Turniere, die es diesem oder jenem Spieler erlauben sollten, noch mal Punkte zusammenzukratzen. Und so kam es, dass Alireza Firouzja in seinem Heimatverein Chartres zu acht Showmatches gegen alternde Großmeister antritt, zu deren besten Jahren die Mauer noch stand, um aus ihnen noch den ein oder anderen Punkt herauszumelken, als wären es Blattläuse.
Der zweite noch offene Spot wird über den sogenannten FIDE-Circuit vergeben, in dem die besten Turnierergebnisse des Jahres gewertet und zusammengezählt werden. Aktuell liegt hier hauchdünn Anish Giri in Führung. Das aber kann sich noch ändern, nachdem der indische Schachverband für zwei seiner Spieler noch ein Master in Chenai aus dem Boden gestampft hat.
Allerdings ist dieses Turnier tatsächlich stark besetzt und kein reines Schaulaufen, wie es Firouzja gerade absolviert. Es war in den vergangenen Wochen jedenfalls fast interessanter zu verfolgen, wer noch in irgendeiner Mehrzweckhalle oder Hotellobby ein paar Bretter aufgestellt bekam, als die Turniere an sich.
Schach als Propagandawerkzeug
Zu verantworten hat diesen ganzen Zirkus die FIDE, die offenbar Besseres zu tun hat, als sich um Schach zu kümmern. Ihr russischer Präsident Arkadi Dworkowitsch hat just in diesem Monat eine Satzungsänderung durchgedrückt, mit der die bisherige Maximaldauer von zwei Amtszeiten aufgehoben wurde; jetzt kann er theoretisch lebenslang gewählt werden.
Das freut insbesondere die russische Politik: Dworkowitsch hat als ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident beste Verbindungen, und Schach ist ein wichtiger sportpolitischer Propagandahebel für das Regime. Sergej Karjakin, neben Ian Nepomniaschtschi bester russischer Spieler, nutzt seine Popularität, um fortwährend den Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen und seine Treue zu Putin zu demonstrieren.
Im Sommer begrüßte Dworkowitsch zum internationalen Schachtag Dmitri Peskow, Putins Pressesprecher, der ebenso wie Verteidigungsminister Sergei Schoigu dem Kuratorium des russischen Schachverbands angehört. Russische Mannschaften treten bei internationalen Wettkämpfen bisweilen wieder unter russischer Flagge auf, obwohl man das verboten hatte. Und bei einem russischen Team-Cup traten Mannschaften aus den annektierten ukrainischen Gebieten Luhansk, Donetsk und Kherson an.
Protest dagegen kommt nur vereinzelt auf. Zum Beispiel von Levon Aronian, der sagte, die jüngsten Entscheidungen würden „die FIDE zerstören“. Das wäre nicht das Schlechteste.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören