Sargnagel am Rabenhoftheater in Wien: Das Fest der rohen Bürgerlichkeit
In „Opernball“ inspiziert Stefanie Sargnagel die Innereien der Wiener Gesellschaft. Christina Tscharyiski inszeniert den Text für die Theaterbühne.

An den Häppchen sollt ihr sie erkennen! Eines dieser Lachs- oder Schinken-Canapés, sie sind unverzichtbar gegen den Drang aufzustoßen, wenn der Schaumwein im Magen überhand nimmt. Es wird zum Stein des Anstoßes und setzt der Ballnacht in der Wiener Staatsoper ein Häubchen aus Sahnemeerrettich auf. Kameras, die öffentlich-rechtlichen wie die privaten, waren längst abgebaut und weggepackt, als zu fortgeschrittener Stunde die Debatte über Eigentumsfragen so richtig in Fahrt geriet.
Einen ungeübten Gast hatte es unter feine Leute verschlagen. Er glaubte, jene Freundlichkeit der Worte, die im sozialen Verkehr als Schmierstoff bestehende Ungleichheit mildert, erstrecke sich auch auf einen Bissen Essbares. Was dazu führte, dass – haltet den Brötchendieb! – ein Einzelner sein Naturrecht am Eigentum handgreiflich durchsetzte. There ain’t no such thing as a free lunch.
Das hat sie jedenfalls alles selbst mit angesehen, die Stefanie Sargnagel aus Stefanie Sargnagels neuem Stück „Opernball“, im Wiener Rabenhoftheater angekündigt und aufgeführt als Tour de Force auf dem „härtesten Parkett der Welt“. Eine gut 30 Textseiten lange Miniatur entfaltet im inneren Monolog die virtuose plebejische Schmährede gegen eine rohe Bürgerlichkeit, die es aufgegeben hat, sich noch hinter Gemeinsinn stiftenden Formeln zu verbergen.
Die weiß, was ihr „Recht“ ist, und bereit, es ungebremst gegen Schwächere durchzusetzen. Disruption eben. Reichtum gibt die Freiheit, sich in der Hauptsache auf sich selbst zu konzentrieren, der Produktion von Spiegelneuronen und Oxytocin ist er nicht unbedingt förderlich.
Korsagen drücken, Botox und Lippenfiller quellen
Umso mehr entfacht er in der Literatur, die sich an ihm reibt, eine surrealen Bilderflut in der Imagination der Leser:innen und auf der Bühne. Korsagen drücken, Botox und Lippenfiller quellen und manchmal wird einfach ein Ohrläppchen abgezwickt. Die herrschende Klasse durchläuft einen zunächst noch unauffällige Mutation zu hoch aufgeschossenen langhalsigen Körpern – junge Frauen in der anorektischen Variante –, die sie den Zumutungen körperlicher Arbeit enthebt, die sich dem proletarischen Leib habituell eingeschrieben hat.
Gesellschaftliche Konventionen schneiden ins Fleisch und auch in das der Ich-Erzählerin, die ihren Körper in Shapewear einer teuren Dessous-Marke zwängt und sich von den Maskenbildnerinnen des Theaters gleich mehrschichtig für den großen Auftritt lackieren lässt.
Christina Tscharyiski, Sargnagels „Partnerin in Crime“, die bislang alle ihre Stücke inszeniert hat, überträgt Sargnagels Bewusstseinsstrom in den vierstimmigen Satz für eine formstrenge Clownerie, die Laura Hermann, Martina Spitzer, Skye MacDonald und Jakob Gühring in wechselnden Identifizierungsgraden ausführen.
Den Blumenschmuck tragen sie gleich (Kostüm: Miriam Draxl). Für Reminiszenzen an die Punk-Ära und ihre diversen Retrowellen sorgen der Musiker Salò und seine Begleitband. Sargnagel sucht immer wieder die biografische Rückbindung an frühere militante Haltungen, an die Subkultur der Wiener Vorstadt.
Was Sargnagel in ihrem Schreiben „Fäkalrealismus und liebevolle Bosheit“ nennt, nehmen Tscharyiski und Dominique Wiesbauer (Bühne) in ihrer Reise in die Finsternis der Wiener Gesellschaft ganz und gar wörtlich, Zug um Zug fallen die Glitzervorhänge, und es zeigt sich die Plüschnachbildung eines Darmtrakts, darin hängt eine unverdaute Leberkässemmel, auf der Salò schaukelnd vom Shouter zum Crooner mutiert.
Aber auch Punk ist in die Jahre gekommen. Eat the Rich war 1987, inzwischen sind die Stützen der Gesellschaft längst nicht mehr zu genießen, von der Tortur des Tanzschuhs abgefaulte Zehen liegen herum. Die vier Protagonist:innen versinken schließlich in der teerigen Substanz abgestorbener Zellmasse, aus der sich das Ich der Erzählung in einer weißen Kutsche von einem Lipizzaner gezogen emporhebt.
Das „härteste Parkett der Welt“ ist am Ende vielleicht doch die meist überschätzte Party der Stadt. Was wurde nicht alles über den Ball be- und geschrieben: blutige Faustkämpfe deutscher B-Prominenz, welche Stars und Sternchen bis zum Rand abgefüllt bei Interviews fast über die Brüstung gekippt wären.

Im Jahr der ersten österreichischen Rechtsregierung 2000 drang ein Held der damaligen Wiener freien Theaterszene in des „Führers“ Galauniform bis zur Feststiege vor. Auch die Proteste wurden von Jahr zu Jahr schwächer. Wogegen sollen sie sich richten? Welche Grade der Korruption sind noch zu entlarven?
Es ist nicht der Gegenstand, der für Sargnagels Opernball-Abenteuer einnimmt, sondern ihr literarisches Verfahren, das bei näherem Hinsehen dem Taugenichts-Motiv der Romantik erstaunlich ähnelt. Das Ich ihrer Prosa mäandert ohne den Filter zweckgerichteten Handelns durch die sinnliche Welt, um aus dem Moment der Erfahrung Schlüsse zu ziehen, die theoretisch stringent sind, ohne deswegen gleich ein Theoriegebäude zu bauen. Ihre Bücher sind wie Bildungsromane, nur ohne Bildungsziel.
Freundschaftsanfragen von Moderatorinnen
Die Reiseerfahrungen zu verarbeiten war einst das Privileg junger Männer höherer Stände. Sargnagel codiert in ihrem Schreiben lange Zeit klassen- und geschlechtsspezifische Erfahrungsmöglichkeiten in der Literatur radikal um. Das macht sie in den Augen ihrer Leserinnen zum Role Model, die im exotischen Wiener Idiom die Punch Lines nur so raushaut und sich traut, Aggressives oder Grindiges von sich zu geben in einer Weise, wie es auch im feministischen Juste Milieu eher noch unüblich ist.
Beim Opernball war Sargnagel übrigens nicht zum ersten Mal. Vor Jahren kam sie als unbekannte Außenseiterin mit plebejischen Wurzeln in der Wiener Vorstadt. Jetzt war sie geladen, verlief sich unerwartet in den eigenen Ambivalenzen.
Klatschreporter wanzen sich an: „Ah, die Schriftstellerin!“, Moderatorinnen von „Dancing Stars“ schicken Freundschaftsanfragen. Jetzt, wo sie für ihr Gelingen auch der „großen Form“ durchs deutsche Feuilleton getragen wird, muss ihr symbolisches Kapital neu vermessen werden. Die Freundlichkeiten von der falschen Seite irritieren noch, aber das Spektakel kennt kein außen.
„Opernball“ läuft wieder am 28. Februar, an verschiedenen Tagen im März und im Mai. Mehr Informationen unter: www.rabenhoftheater.com
Dabei war sie in besonderer Mission unterwegs. Während anderswo in der Kultur radikale Sparmaßnahmen bevorstehen, schüttet die Stadt Wien in diesem Jahr zusätzliche 22 Millionen Euro für ein Johann-Strauss-Jahr über der gesamten Branche aus, sofern sie etwas zu Johann Strauss (Sohn) macht.
Das ist einerseits schön, weil Geld sieht man einfach auf der Bühne. Andererseits ist es schrecklich, wenn plötzlich alle zum selben Thema arbeiten. Sargnagel und den Rabenhof ficht das nicht an. Sie haben das Geld genommen und gemacht, was sie ohnehin wollten. Also doch eine Punk-Geschichte, ein „Great Rock ’n’ Roll Swindle“ im Kleinen, wenn man so will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!