Sam Mendes' Weltkriegsdrama „1917“: Der ungeschnittene Krieg
In „1917“ erzählt Sam Mendes in einer langen Einstellung vom Irrsinn des Ersten Weltkriegs. Das entwickelt große Sogkraft, doch macht es auch Sinn?
Der Regisseur Jean-Luc Godard hat einmal gesagt: „Kino, das ist die Wahrheit 24 Bilder pro Sekunde, und jeder Schnitt ist eine Lüge.“ Folgt man dieser Aussage, müsste man Sam Mendes’ Kriegsfilm „1917“, der in seiner gesamten Dauer von 119 Minuten keinen einzigen offensichtlichen Schnitt macht, als absolut wahren Film betrachten; als endgültigen Film über die Grauen des Ersten Weltkriegs, die sinnlose Verschwendung von Menschenleben, die sich in endlosen Schlachten aufrieben, Gebiete verteidigten, die längst nicht mehr waren als verbrannte Erde.
Wenn man nach den zwei Stunden Stahlgewitter aus „1917“ taumelt, kann man zwar nicht anders, als Mendes, seinem Kameramann Roger Deakins und den vielen weiteren Technikern zu einer technisch atemberaubenden Leistung zu gratulieren, doch die Frage nach dem Warum ist weniger leicht zu beantworten. Warum wird eine im Kern einfache, klare, fast schon simple Geschichte mit dieser technischen Form überhöht?
Dass Mendes – für sein Regiedebüt „American Beauty“ vielfach mit dem Oscar ausgezeichnet und zuletzt mit den Bond-Filmen „Skyfall“ und „Spectre“ kommerziell extrem erfolgreich – Interesse am Ersten Weltkrieg hat, liegt in der Familie. Sein Großvater, dem der Film gewidmet ist, kämpfte an der Front in Flandern und erzählte dem heranwachsenden Sam immer wieder Geschichten.
Geschichten, die nicht recht zusammenpassten, die keinen Anfang und kein Ende hatten, die vor allem aber von der Irrationalität dieses speziellen Krieges erzählten, von Monaten in von Ratten behausten, baufälligen Schützengräben, den sinnlos anmutenden Angriffen, denen unweigerlich Gegenangriffe folgten.
Und natürlich auch von Heroismus, von Kameradschaft, von der Aufopferung, die den Ersten Weltkrieg in England in einer fraglos etwas verklärten Erinnerung zum „Great War“ werden ließen. Aus den Geschichten seines Großvaters formte Mendes zusammen mit Krysty Wilson-Cairns ein Drehbuch, das zwei jungen Soldaten folgt: Schofield (George MacKay) und Blake (Dean-Charles Chapman), die einen lebenswichtigen Auftrag erhalten.
Sie sollen sich durch das Niemandsland schlagen, vorbei an von den Deutschen verlassenen Stellungen, um eine andere britische Kompanie von einem Angriff abzuhalten. Ein Angriff, auf den die Deutschen warten, der unweigerlich den Tod von Hunderten Briten zur Folge hätte, darunter zu allem Überfluss auch noch Blakes Bruder.
Bekannte Motive der Filmgeschichte
Dass dieser familiäre Dreh an „Saving Private Ryan“ erinnert, ist nur ein erster Hinweis darauf, wie sehr sich Mendes und Wilson-Cairns bei bekannten Motiven des Kriegsfilms bedienen. In den einzelnen Episoden, durch die Schofields und Blakes Weg strukturiert ist, begegnen ihnen ignorante Vorgesetzte, Scharfschützen, eine liebliche Einheimische, hinterhältige Feinde. Sie beweisen Heldenmut, retten sich gegenseitig das Leben, agieren selbstlos und mutig. Dass dabei britische Schauspielstars wie Colin Firth, Benedict Cumberbatch und Mark Strong in winzigen Rollen auftreten, verstärkt noch den Eindruck des Episodischen, des Aneinandergereihten, der durch die essenzielle Entscheidung geprägt ist, den ganzen Film wie eine Einstellung wirken zu lassen.
„1917“. Regie: Sam Mendes. Mit George MacKay, Dean-Charles Chapman u. a. USA/Großbritannien 2019, 119 Min.
In Echtzeit läuft das Geschehen also ab, beginnt am Nachmittag, wird dann von einem längeren Blackout einer der Figuren unterbrochen, springt in das Morgengrauen des Folgetages, kurz vor Beginn des zum Scheitern verurteilten Angriffs. Aus rein technischer Sicht ist das ganz ohne Frage eine atemberaubende Meisterleistung.
Wie Deakins’ Kamera scheinbar schwerelos durch Stacheldrahtverschläge, über Tümpel, durch Katakomben gleitet, erzeugt einen bemerkenswerten Sog. Später fährt man auf einem Laster mit, fällt eine Flussböschung hinunter und erlebt in der Nacht, wenn rote Leuchtraketen eine völlig zerstörte Stadt beleuchten, wie der Krieg endgültig zur Hölle auf Erden wird.
Ist der Rausch dieses immersiven Erlebens jedoch vergangen, stellt sich verstärkt die Frage nach dem Warum. Denn was Mendes mit dieser technischen Entscheidung erreicht, wirkt am Ende weniger durchdacht als die Experimente mit langen Einstellungen, die Filmemacher schon immer faszinierten.
In den 40er Jahren arbeiteten Orson Welles und William Wyler zunehmend mit langen Einstellungen, die Sequenzen nicht mehr durch Schnitte auflösten, sondern es dem Zuschauer ermöglichten, das Geschehen quasi aus der Distanz zu betrachten. Dies bedeutete in den Augen des großen Filmkritikers André Bazin eine größere Objektivität, im Gegensatz zum suggestiven, die Wahrnehmung des Zuschauers kontrollierenden Montage-Kino.
Die lange Einstellung wurde somit zu einem der Markenzeichen des Autorenkinos, deren Vertreter lange Zeit für die markantesten Beispiele dieser Technik verantwortlich waren. Orson Welles begann „Im Zeichen des Bösen“ etwa mit einer fast dreieinhalb Minuten langen Einstellung, in der nicht nur der Weg einer Autobombe begleitet, sondern auch die mexikanisch-amerikanische Grenze überschritten wird.
Mühsal des Sisyphus
Unvergesslich auch eine der letzten Einstellungen von Andrei Tarkowskis „Nostalghia“, in der ein Mann versucht, mit einer brennenden Kerze die Ruine eines Wasserbeckens im toskanischen Ort Bagno Vignoni zu durchschreiten, immer wieder scheitert, die Kerze erlischt, an den Anfang zurückkehrt, die Kerze von Neuem entzündet, um am Ende, in einem transzendenten Moment, Erfolg zu haben. Schon diese Beschreibung deutet an, dass Tarkowski mit seiner Entscheidung, diese Handlung sagenhafte neun ununterbrochene Minuten zu zeigen, mehr im Sinne hatte, als zu zeigen, was filmtechnisch möglich war. Die Mühsal der Handlung, der an Sisyphus erinnernde Stoizismus gewinnen durch die schier endlose Einstellung noch an Kraft.
Noch weiter ging Theo Angelopoulos, dessen Filme im Laufe seiner Karriere immer meditativer wurden. In seinem Meisterwerk „Die Wanderschauspieler“ durchschreitet er mit langen Einstellungen nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit: Manche Einstellungen beginnen in einem Jahrzehnt und enden Jahre zuvor. So wie in Alexander Sokurows „Russian Ark“, einem der ersten Filme, der dank Digitaltechnik tatsächlich in einer einzigen Einstellung gedreht wurde. Bei einem Gang durch die Eremitage in St. Petersburg fließen unterschiedlichste Epochen der russischen Geschichte ineinander, werden praktisch zu einem; auch dies eine offensichtlich politische Aussage.
Beschränkte früher die analoge Technik die Länge einer Einstellung auf die Länge einer Filmrolle, also gut zehn Minuten, ist inzwischen alles möglich: Ein 140 Minuten langer Film wie Sebastian Schippers „Victoria“, der tatsächlich ohne einen Schnitt durch eine Berliner Nacht taumelt, aber auch Alejandro Iñárritus „Birdman“ oder László Nemes’ „Son of Saul“, die durch versteckte Schnitte so wirken, als wären sie in einer Einstellung gedreht. Gerade Nemes’ Holocaust-Film musste sich dabei ähnliche Kritik gefallen wie nun Mendes: Das Publikum die Grauen des Holocausts, die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz in immersiver Weise erleben zu lassen, wirkte auf manche Kritiker wie ein fragwürdiger, ja angeberischer Stunt.
Während Nemes mit seinem Film noch filmisches Neuland betrat, kann man Sam Mendes dies nicht zugutehalten. Inhaltlich variiert „1917“ nicht mehr als Szenen und Motive unzähliger Kriegsfilme. Allein die stilistische Herangehensweise macht diesen Film außerordentlich und besonders, je nach Sichtweise zu einem oberflächlichen Weltkriegs-Erlebnisparcours oder einem emotional packenden, immersiven Ereignis.
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