Salsa und sexuelle Gewalt in Kolumbien: Schluss mit Dirty Dancing
Cali war einst ein gefährliches Pflaster, besonders für Frauen. Kann die kolumbianische Salsa-Szene mit Streetart zum Safe Space werden?
O hrenbetäubende Musik schallt aus den Boxen der Tanzschule „Rumba y Salsa“ nahe dem touristischen Zentrum von Cali im Westen Kolumbiens. Am Eingang werden Flyer gereicht, an den Wänden hängen Plakate, die Werbung für Tanzkurse machen. Die Stimmung ist ausgelassen. Fröhlich begrüßen die Tanzlehrer*innen Ankömmlinge und wirbeln sie nach den ersten Grundschritten schnell durch die Gegend.
Erteilt wird vor allem Einzelunterricht, aber regelmäßig finden auch Gruppenkurse zu speziellen Tanzstilen wie „Lady-Style“ oder „Bachata“ statt. Zwei Tanzlehrer zeigen einer jungen Frau gerade, wie sie in eine komplizierte Schrittfolge einsteigt. Die Unterrichtenden wechseln dabei flexibel zwischen männlicher und weiblicher Rolle.
Die beiden Lehrer Carlos und Mateo unterrichten gerade ein Paar. Elegant schwingt Mateo seine Hüften und versucht dem Mann beizubringen, wie man führt. Der ist nach zahlreichen Versuchen offensichtlich am Verzweifeln. „Vielen Männern fällt es besonders am Anfang viel schwerer als den Frauen, locker zu werden, die Schritte zu lernen und gleichzeitig die Richtung und die nächsten Bewegungen vorzugeben“, erklärt Mateo, „doch das ist ganz normal“.
In dieser Tanzschule herrscht ein sensibler Umgangston. Es gibt aber auch andere Clubs, in denen Frauen häufig nicht nur zum Tanzen aufgefordert, sondern nahezu gezwungen werden. Bei „Rumba y Salsa“ haben auch die Männer untereinander kaum Scheu vor Körperkontakt und helfen sich in den Pausen gegenseitig dabei ihre Tanzschritte zu verfeinern.
Als die Gewalt eskalierte
Cali, die drittgrößte Stadt Kolumbiens mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern, galt mit ihrer hohen Mordrate lange als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Seit den 1970er bis in die 1990er Jahre regierte das mächtige Cali-Kartell die Stadt. Die US-amerikanische Drogenbehörde DEA schätzte es als das größte bekannte kriminelles Syndikat weltweit ein. In Hoch-Zeiten war das Cali-Kartell für mehr als 80 Prozent der Kokainexporte in die USA verantwortlich.
Als in den 1990er Jahren zusätzlich zum jahrzehntelangen Bürgerkrieg auch die Gewalt des Cali-Kartells eskalierte, flüchteten viele aus der Stadt. Den Säuberungsaktionen des Kartells gegenüber den sogenannten „desechables“ (deutsch: „Wegwerfmenschen“) fielen dennoch Tausende zum Opfer. Für ausländische Besucher ist die düstere Vergangenheit der Stadt kaum noch sichtbar.
Inzwischen wird Cali als die „Welthauptstadt der Salsa“ angepriesen. 2006 entstand das „World Salsa Festival“, welches alljährlich im September gefeiert wird. Rund 5.000 Tänzer*Innen aus mehr als 50 Tanzschulen präsentieren ihr Können in pompösen Umzügen auf der Straße. Gefolgt wird dieses im Dezember von der „Feria de Cali“, auch „Feria de la Salsa“ genannt, welche zu den traditionsreichsten Festen des ganzen Subkontinents gehört.
Unabhängig von diesen großen Festen haben sich in der Stadt eine Vielzahl an Salss-Clubs zum allabendlichen Tanzen etabliert. Selbst für die Großelterngeneration gibt es rund um den Park Alameda Clubs, die speziell für die ältere Generation offen haben und die liebevolle Bezeichnung „Viejotecas“ (etwa: Diskothek für alte Menschen) tragen.
Cali: Salsa und Streetart
In dem angesagten Viertel San Antonio haben sich – neben hippen Hostels und Restaurants – auch mehrere Tanzschulen angesiedelt, in denen einige der immer zahlreicher werdenden Touristen Tanzstunden belegen, um beim Weiterziehen in die Salsa-Clubs der Stadt mittanzen zu können.
„Die Touristen kommen oft wegen der Salsa nach Cali und sind begeistert davon“, erzählt Sofia und malt weiter an ihrem Mural, einem Wangemälde mit politischer Botschaft. „Aber dass Cali zur Salsa-Stadt wird, ist nicht nur positiv“. Sofia, die ihren Nachnamen nicht nennen will, ist Streetart-Künstlerin des feministischen Kollektivs Juntanza Danza. Sie hat es mit Freundinnen gegründet, um bekannte Partyorte zum „Safe Space“ für Frauen zu gestalten.
Zu einem dieser bekannten Partyorte gehört die „Carrera 3“, in der sich am Wochenende hunderte „Caleñas“ und „Caleños“ gemeinsam mit den Touristen versammeln, um das immaterielle Kulturerbe der Stadt, den Salsa, zu feiern.
Sofia
Streetart spielt im gesamten Land eine wichtige Rolle für das Vermitteln politischer Botschaften. Als der kanadische Musiker Justin Bieber, fasziniert von der kolumbianischen Graffitikultur, im Jahr 2013 eine Wand in Bogotá besprühte, schützte ihn die Polizei. Zwei Jahre zuvor war der kolumbianische Jugendliche Diego Felice Becerra in der selben Gegend von den Ordnungshütern beim Sprühen erwischt und auf der Flucht von hinten erschossen worden.
Die Erfolge des Feminismus
Im gesamten Land brachen darufhin heftige Proteste aus und zahlreiche Streetart-Kollektive solidarisierten sich mit dem Ermordeten. Mehr als 700 Graffitis wurden von rund 300 Künstlern alleine um den Ort des Geschehens, die „Calle 26“, gesprüht. Seither ist das kreative Gestalten von öffentlichen Gebäuden in Kolumbien auf öffentlichen Flächen und Gebäuden legal und die bunten Fassaden sind kaum noch aus dem öffentlichen Bild der Städte wegzudenken.
So bemalt Sofia mit ihrem Freund Jorge, der Teil des Kollektivs „Alpajaguar“ ist, eine Brücke am helllichten Tage. Immer wieder halten Leute an, um ins Gespräch zu kommen. So auch ein älterer Herr, der meint: „Es ist schön, dass unsere Stadt kreativ gestaltet wird. Außerdem finde ich es gut, wenn die jungen Leute sich engagieren und sich gegen die Gewalt in unserem Land einsetzen.“
Gewalt gegenüber Frauen stellt auch in Kolumbien ein großes Problem dar. „Ni Una Más!“, übersetzt „Nicht eine mehr!“ thematisiert die Morde an Frauen, welche meistens als sogenannte Beziehungstaten relativiert oder ohne die Einordnung in patriarchale und sexistische Strukturen als Einzeltaten bezeichnet werden.
Die „Ni Una Más“- Bewegung konnte in den letzten Jahren den Druck auf verschiedene lateinamerikanische Regierungen erfolgreich erhöhen. In Kolumbien wurden Feminizide im Jahr 2015 als strafverschärfende Umstände zum Tatbestand Mord eingeführt. Mexiko, Argentinien und Uruguay folgten.
Salsa beschert Boom – und Übergriffe
Auch wenn die strafverschärfenden Umstände selten angewendet werden, konnte die dortige feministische Bewegung mit einem der progressivsten Gesetze weltweit einen großen Erfolg erzielen. Trotzdem wurden im Jahr 2022 über 557 Feminizide in Kolumbien von der Beobachtungsstelle für Feminizide gemeldet.
Die „Linea Calma“, eine von der Feministin Maria Fernanda Cepeda Anaya ins Leben gerufene Hotline, die sich an Männer richtet, welche im Begriff sind, häusliche Gewalt auszuüben, oder dies bereits tun, soll patriarchaler und sexistischer Gewalt frühzeitig entgegenwirken. Ein Team von elf Psychologen und Psychologinnen möchte über ein Training zwischenmenschlicher Kommunikation und Emotionsmanagement eine friedliche Lösung von Konflikten ermöglichen.
Der Salsa-Boom jedenfalls beschert der Stadt nur oberflächlich einen friedlicheren Alltag. Die immer größer werdenden Touristenmengen bescheren nicht nur Einnahmen, sie polieren auch das Image auf. Der Bürgermeister wollte gar die offizielle Umbenennung der Straße in die „Calle de la Salsa“ durchsetzen. So findet man an den Wochenenden nicht nur Salsa-Bars in der Straße, sondern überall auch kleine DJ-Pulte und mehrere Live-Bands, sodass in der ganzen Straße getanzt wird.
Für die Student*innen scheint die nahe der Universität gelegene „Calle de la Salsa“ wie ein angenehmer Ort, um die Abende und Nächte zu verbringen. Wie in den Salsa-Clubs der Stadt werden allerdings auch hier die zumeist alkoholisierten Männer Frauen gegenüber oft übergriffig. „Dass es sich bei einer Hand an der falschen Stelle um sexuelle Belästigung handelt, muss den Männern noch immer klargemacht werden. Die Grundlagen im Verständnis für den Feminismus fehlen“, berichtet Sofia.
Ganz Südamerika in Graffitis
„Tu piropo es acoso“ – „Dein Kompliment ist eine Belästigung“ steht deswegen in zwei Meter großen Buchstaben an einer der belebtesten Ecken der „Calle de la Salsa“. Damit problematisiert das feministische Streetart-Kollektiv Juntanza Danza Catcalling („piropo“) – also das Hinterherrufen und Nachpfeifen, fast ausschließlich durch Männer gegenüber Frauen – sowie andere sexistische Übergriffe.
Die künstlerischen Ausdrucksmittel des Kollektivs sind vielfältig. Sie reichen vom klassischen Graffiti hin zu großflächigen Gemälden. So konnte, durch Fördermittel finanziert, auch die Bemalung eines öffentlichen Gebäudes mit einem Mural von drei Künstlerinnen in der „Calle de la Salsa“ realisiert werden. Auch weil dieses Gebäude, das „Defensoria Del Pueblo“ (etwa: Organisation zum Schutz der Menschenrechte) von einer Frau geleitet wird.
Anlässlich einer 8.-März-Aktion zum Frauenkampftag gestaltete Juntanza Danza die Fassade des gegenüberliegenden mehrstöckigen Hauses so hoch, wie das Gerüst reichte, mit Plakaten. Für die restliche Fassade wurde in einer weiteren Aktion ein noch größeres Gerüst gemietet.
Sofia erklärt: „Die zahlreichen Plakate, die alle eine feministische Botschaft vermitteln, hat unsere Gruppe in unterschiedlichen Ländern Südamerikas auf verschiedensten Reisen zusammengetragen“. Die „Sisterhood“, die es sich zum Ziel macht, andere Frauen zu stärken und sich gegenseitig zu unterstützen, ist dem Kollektiv dabei besonders wichtig. „When one of us shines we all shine“, macht Sofia klar. „Wenn einer von uns strahlt, strahlen wir alle“.
„Sie haben die Sisterhood hinter sich“
So fand auch über die Plakate eine Vernetzung feministischer Künstler*innen in Südamerika statt, die sie nun in ihr Grafikbüro „Lainterna“ zu Aufenthaltsstipendien für Künstler*innen einladen und durch die Vermarktung ihrer Kunst finanziell unterstützen.
Ihr Ziel ist es, sich die Straßen, insbesondere diese, als Frauen anzueignen. „Ob es den Männern egal ist oder Gedanken anstößt, können wir nicht beeinflussen. Uns ist aber wichtig, dass die Frauen nicht alleine sind, sondern wissen, sie haben die Sisterhood hinter sich“, sagt Sofia. Trotzdem hoffen sie, das feiernde Publikum mit ihren provokanten Aussagen zu irritieren, um so für wichtige feministische Themen zu sensibilisieren.
Dazu gehört die Sichtbarmachung von unterschiedlichen feministischen Themen. So wird auf einem der gesammelten Plakate auch die weltweite Legalisierung von Abtreibung gefordert. Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 24 Schwangerschaftswochen wurden in Kolumbien erst 2022 entkriminalisiert. Vorher war dies nur in bestimmten Fällen, wie zum Beispiel einer Vergewaltigung, erlaubt.
Der Beschluss folgte auf die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Argentinien und Mexiko im Zuge der „grünen Welle“ in Lateinamerika. Auch zwei Wochen bezahlte Elternzeit für Väter wurde 2021 eingeführt.
Die Farc und die Drogenkartelle
Im kolumbianischen Bürgerkrieg war die Gewalt gegenüber Frauen besonders ausgeprägt. Machtlosigkeit in einem patriarchalen System, sexuelle Gewalt und Gewalt gegen ihre Körper als Kriegsstrategie, führten dazu, dass nahezu alle Frauen Gewalterfahrungen gemacht haben.
Durch die ungleiche Verteilung von sozialer und ökonomischer Macht, die bis heute besteht, begannen in den 1960ern verschiedene Guerilla-Organisationen eine Landumverteilung zu fordern. Darunter die Farc, die sich als marxistisch-leninistische Kampfgruppe des kolumbianischen Volkes bezeichnet. Mit Ideen zu mehr Gerechtigkeit begann sie einen Kampf gegen den Staat und seine Repräsentanten.
Da die Farc Landbesitzer enteignete, bewaffneten sich diese über rechte paramilitärische Gruppen, welche von der Regierung unterstützt wurden. Zudem kam der Kokainexport nach Nordamerika hinzu, wobei Kolumbien in den 1980er Jahren zu einem der größten Kokainproduzenten weltweit zählte.
Zur Finanzierung schloss die Farc Bündnisse mit einigen mächtigen Drogenkartellen und kämpfte gegen andere. Dadurch nahmen Morde, sexuelle Gewalt und die Entführungen vonseiten der Regierung, der paramilitärischen Gruppen und der Guerilla-Organisationen in den späten 90ern bis in die frühen 2000er nochmals zu.
80 Prozent von Folter betroffen
2016 schloss die Farc einen Waffenstillstand mit der kolumbianischen Regierung, in welchem sie sich verpflichtete, alle Waffen an Vertreter der Vereinten Nationen abzugeben, sowie die Aktivist*innen in die Gesellschaft zu integrieren. Im Zuge der Friedensprozesse wurde zwischen 2016 und 2022 eine Wahrheitskommission gegründet, die eine Grundlage für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung darstellen soll.
Das feministische Netzwerk „Ruta Pacífica De Las Mujeres“, übersetzt „Der friedliche Weg der Frauen“, hat dabei die Gender-Perspektive in die Wahrheitskommission integriert. Das Netzwerk setzt sich seit 1996 dafür ein, aufzudecken, welche Folgen der Krieg für das Leben von Frauen hat. Im Rahmen ihrer Recherchen haben sie 1.000 Frauen zu ihren Erlebnissen befragt.
Das Ergebnis zeigte, dass 80 Prozent der Frauen von Folter betroffen waren und mehr als 50 Prozent miterleben mussten, wie Angehörige hingerichtet wurden. „In Kolumbien wurde (…) sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt, als Weg, den Feind zu entehren, oder wie eine Trophäe, die man sich nimmt“, erläutern die Aktivistinnen der NGO in einer ihren zahlreichen Veröffentlichungen.
In dem Bürgerkrieg wurde an zwei von drei Tagen eine Frau vergewaltigt. Auch lag es aufgrund der zahlreichen verstorbenen Männer an den Frauen, die doppelte Belastung zu tragen, Geld zu verdienen und sich um die Familie zu kümmern. Viele Söhne schlossen sich, gelockt von der Aussicht auf ein besseres Leben, einer Guerillaorganisation an. Hierbei reichte oft schon das Verrsprechen von Markenkleidung, Hygieneartikeln oder einem eigenen Zimmer. Noch heute suchen zahlreiche Mütter nach ihren verschwundenen Söhnen.
Sie haben Feinde
Nach wie vor schafft es die Regierung des viertgrößten Landes Südamerikas trotz aller Friedensbemühungen nicht, alle Regionen zu erreichen und bei der Suche nach Angehörigen zu helfen.
Feministische Kollektive wie Juntanza Danza haben sich zum Ziel gemacht, auf der Alltagsebene für Sexismus und Gewalt gegenüber Frauen ein Bewusstsein zu schaffen, an genau den Orten, an denen aktuell die sexuelle Belästigung stattfindet. „Dass unsere feministische Streetart gesehen wird und manche zu stören scheint, deutet sich in vielen abgekratzten Plakaten an“, bemerkt Sofia, „und gerade deshalb braucht es feministische Gruppen, die solche Themen auf die Straßen bringen, am besten unübersehbar in riesigen Murals.“
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