Sächsischer Verfassungsschutz zum NSU: „Ähnlich einer Terroristengruppe“
Bereits im Jahr 2000 sprach der sächsische Verfassungsschutz im Zusammenhang mit dem NSU-Trio von „Terrorismus“. Das wird unterschiedlich bewertet.
BERLIN taz | Eine Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufklärung der NSU-Affäre: Hätten die Sicherheitsbehörden ihre Arbeit richtig gemacht, hätten die Morde des Terrortrios verhindert werden können. Ein weiteres Puzzlestück zu diesem desaströsen Bild liefert nun ein Dokument, über das nun „Report Mainz“ berichtet.
Das ARD-Fernsehmagazin zitiert aus einem geheimen Schreiben des sächsischen Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2000, in dem eine aus heutiger Sicht recht präzise Einschätzung über das Trio getroffen wird. „Das Vorgehen der Gruppe ähnelt der Strategie terroristischer Gruppen, die durch Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck verfolgen", heißt es da.
Als Zweck der Vereinigung werden „schwere Straftaten gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung“ angegeben. Zudem sei eine „eine deutliche Steigerung der Intensität bis hin zu schwersten Straftaten feststellbar.“
Das Schreiben ist die Begründung einer sogenannten G-10–Beschränkungsmaßnahme gegenüber dem Trio selbst und vier mutmaßlicher Unterstützer. Diese Überwachungsaktion unter dem Namen „Terzett“ ist schon länger öffentlich bekannt. Inhaltlich basiert die Einschätzung der Verfassungsschützer auf dem, was seit 1998 bekannt war: Drei militante Jenaer Neonazis, die als Bombenbauer gesucht werden, sind untergetaucht. Neu ist, dass in diesem Zusammenhang von „Terrorismus“ gesprochen wird.
Eine Möglichkeit für diese deutliche Formulierung ist, dass es sich bei einer G-10-Maßnahme um eine weitreichende Überwachungsmaßnahme handelt, die nicht ohne weiteres genehmigt wird – und folglich eine überzeugende Begründung verlangt. Unter anderem können die Behörden dann Briefe mitlesen und Telefone abhören. Drei Monate, vom 5. Mai bis 5. August 2000, wurden die Zielpersonen aus dem Umfeld des Trios also überwacht – ohne relevante Ergebnisse. Am 9. September verübte der NSU seinen ersten Mord.
Militante Rechtsextreme – keine Terroristen
Das sächsische Innenministerium legt heute Wert darauf, dass sich die „damalige Bewertung und Prognose“ lediglich auf den Rohrbombenfund, die Flucht aus Jena und Waffenbesitz gestützt habe und „nicht die gezielte Ermordung von Menschen aus rassistischen Motiven“.
Miro Jennerjahn, der für die Grünen im sächsischen NSU-Untersuchungsausschuss sitzt, kritisiert den „offensichtlichen Widerspruch“ zwischen dem Inhalt des Schreibens und den heutigen Aussagen der damals zuständigen Verfassungsschutzbeamten. Reinhard Boos, damaliger Chef des Landesverfassungsschutzes, und der heutige Vize-Chef haben vor dem Untersuchungsausschuss betont, dass es keine Anhaltspunkte für rechtsterroristische Gruppen gegeben hätte. „Das Trio galt als eine Gruppe von militanten Rechtsextremisten, die gefährlich sind, aber nicht als Rechtsterroristen“, so formulierte es Boos.
Kerstin Köditz, Obfrau der Linken im Untersuchungsausschuss, sieht hingegen „viel Lärm, wenig Substanz“ in dem TV-Bericht. Ihrer Ansicht nach sind die Behörden damals nicht von einer terroristischen Gruppierung ausgegangen. Sie sehe eher Hinweise darauf, „dass die zuständige G-10-Kommission des Landtages bewusst getäuscht werden sollte, um deren Zustimmung zu der geplanten Abhörmaßnahme zu erhalten.“ Denn eigentlich, so Köditz, hätte der Geheimdienst in diesem Fall gar nicht tätig werden dürfen. Stattdessen wäre die Verfolgung des Trios Aufgabe der Polizei gewesen.
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