Sachsens Regierungschef Kretschmer: Ein Januskopf in Chemnitz
Heute kann Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer in Chemnitz Gesicht zeigen. Aber was verbirgt sich hinter diesem Gesicht?
Nun werden seine Veranstaltung in einem Saal am Chemnitzer Stadion diesen Donnerstag um 19 Uhr und vielleicht schon die Besuche einer Oberschule am Vormittag und eines Kinder- und Familienzentrums am Nachmittag bundesweit beachtet.
Kretschmer ist der Repräsentant des Staates, den Rechtsextreme am Montagabend bei ihrem Aufmarsch für einen quälenden Moment beiseite zu räumen im Stande waren. Die halbe Republik fragt sich, welches Gesicht dieser Politiker zeigen wird – und was sich dahinter verbirgt.
Kretschmer, 43, besuchte Chemnitz als Ministerpräsident bereits am 18. Dezember vergangenen Jahres, wenige Tage, nachdem er Stanislaw Tillich nach der CDU-Niederlage bei der Bundestagswahl abgelöst hatte. Im ehemaligen Kaufhaus Schocken in Chemnitz, heute archäologisches Landesmuseum, hatte er allerdings fast ein Heimspiel. Die Besucher waren ziemlich handverlesen, und von der Diskussion blieb eigentlich nur der Satz des Bürgermeisters der nordsächsischen Gemeinde Arzberg in Erinnerung, Kretschmer sei nun endlich der erste sächsische Ministerpräsident.
Weder Kretschmer noch die Moderatoren gingen damals auf diese ziemlich chauvinistische Bemerkung ein. Auf die Westimporte Biedenkopf und Milbradt mochte sie noch zutreffen, aber dass damit der Sorbe Tillich wie ein Fremder abqualifiziert wurde, schien niemanden zu stören.
Die Wiederbelebung des Sachsen-Mythos
Die Anekdote ist typisch für den politischen Januskopf Kretschmer, aus dem unterschiedliche Seiten mal dieses, mal jenes machen können. Eigentlich ist er – in Kategorien, wie sie der Arzberger Bürgermeister pflegt – als Görlitzer ein Niederschlesier, also preußischer Beutesachse. Seine regionalen CDU-Parteifreunde brachten am Verabschiedungstag der sächsischen Landesverfassung 1992 diese noch einmal fast in Gefahr, als sie eine angemessene Berücksichtigung dieser Landsmannschaft verlangten. Da war Kretschmer als Siebzehnjähriger immerhin schon drei Jahre Mitglied der CDU-Jugend.
Zum Generalsekretär der sächsischen Union aufgestiegen war er im Spätherbst des vorigen Jahres faktisch alternativlos als Nachfolger des resignierenden Stanislaw Tillich. Es gibt in der CDU des sich selbst glorifizierenden Sachsens keinen anderen Kader, der nur annähernd an das Format des „Königs“ der 1990-er Jahre Kurt Biedenkopf heran reicht. Ihn nachzuahmen hat Kretschmer zumindest in einem Punkt prompt versucht – in der Wiederbelebung des Sachsen-Mythos nämlich. Bei öffentlichen Auftritten schmeichelt er seinem Volk gern und verklärt die Sachsen zu den frohgemutesten Typen, die Probleme offensiv und konstruktiv angehen. Das mutet wie eine Wahrnehmungsstörung im Mutterland der Missgelaunten und ihrer destruktiven Meckerei an.
Diesen Meckereien zuzuhören versucht Kretschmer seit seinem Amtsantritt. Zu den „Sachsengesprächen“ in allen Landkreisen und kreisfreien Städten reist stets das halbe Kabinett mit. Der Chemnitz-Termin an diesem Donnerstagabend gewinnt nur durch die Instrumentalisierung des Tötungsverbrechens durch die radikale Rechte eine unerwartete Dimension. Überhaupt nutzt Michael Kretschmer jeden sich bietenden Termin für Kontakte mit Jedermann und bewältigt dabei ein schier übermenschliches Pensum.
Auch nach zwei Wochen Sommerurlaub sah man ihm die Strapazen noch an. Mit dem Regierungspartner SPD vereinbarte die Union Anfang dieses Jahres noch so etwas wie eine zweite anspruchsvolle Koalitionsvereinbarung für den Rest der bis zum Sommer des nächsten Jahres andauernden Legislaturperiode. Die Baustellen Schule, Polizei oder Ländlicher Raum bedeuten Stress.
Er avancierte zum Messias der sächsischen Union
Denn für die CDU wie auch für die SPD geht es mit Blick auf die Landtagswahl 2019 um alles. Der ehemals ob seiner Statur als „Pumuckl“ ein bisschen belächelte, aber anerkannte Generalsekretär und Bundestagsabgeordnete Kretschmer ist zum Messias der sächsischen Union avanciert. Es geht um alles in der Partei, die bis 2004 mit absoluter Mehrheit regierte, aber die Bodenhaftung verloren hat. Geholfen hat der neue Kurs der versuchten Bürgernähe nicht. Eine aktuelle MDR-Umfrage sieht die Union nur noch bei 30 Prozent und damit als noch schlechter dastehend als bei Kretschmers Amtsantritt.
Das Gespenst der AfD paralysiert die sächsische CDU geradezu. Und es bewirkt, dass auch der relativ neue Ministerpräsident nicht wirklich erkennbar ist. Das gilt für seine öffentlichen Äußerungen ebenso wie für Plaudereien. Seinen lockeren Stil gegenüber Journalisten hat Kretschmer beibehalten: Noch nie gab es einen so gesprächsbereiten und auskunftsfreudigen Ministerpräsidenten in Sachsen.
Wofür er wirklich steht, ist dennoch kaum auszumachen. Bekannt ist: Er steht für enge Kontakte mit der Seehofer-CSU, ließ gemeinsam mit ihr im September 2016 von den Dresdner Autoren Werner Patzelt und Joachim Klose patriotische Leitlinien verfassen. Im April dieses Jahres erschien er dann allerdings bei den Gegenkundgebungen zum Rechtsrock-Festival „Schild und Schwert“ in Ostritz unweit von Görlitz. Der Kampf gegen Rechtsextremismus müsse aus der Mitte der Gesellschaft kommen, sagte er damals. Dabei sei auch die Linke willkommen. Andererseits berichtet der Vorsitzende des Dachverbandes sächsischer Migrantenverbände Emiliano Chaimite von einer Podiumsdiskussion, in der der Ministerpräsident abstritt, dass der Alltagsrassismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei.
In der Affäre um das unberechtigte Festhalten eines ZDF-Teams bei den Pegida-AfD-Protesten gegen die Kanzlerin verteidigte Kretschmer nicht nur die überforderten Polizisten, sondern diskreditierte auch noch die Reporter. Nach der großen Nazi-Demo in Chemnitz lobte er die Polizei trotz deren Versagen. Zugleich attackiert er die Instrumentalisierung des Tötungsverbrechens durch die Rechte.
Ein echtes Zonenkind
So geht es weiter. Im Gespräch streitet der Ministerpräsident jeden Gedanken an eine Koalition mit der AfD nach den Landtagswahlen 2019 geradezu empört ab. In Dresden aber könnte es passieren, dass nicht Kretschmer, sondern der ultrakonservative Chef der CDU-Landtagsfraktion Frank Kupfer Verhandlungen mit der AfD aufnimmt.
In der DDR kursierte im Volksmund eine parodistische Mailosung: „Wir wissen zwar nicht genau, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!“ Auch wenn er zur Wende 1989 erst 14 Jahre zählte, scheint Michael Kretschmer in dieser Hinsicht ein echtes Zonenkind zu sein.
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