Sachbuch über Frauenbeine: Die Hosen des Herakles
Für Kleiderraub und Kleiderlust: Die Romanistin Barbara Vinken räsoniert über die Mode als Fremdkörper in der Moderne und die Beine der Frau.
BERLIN taz | Ihr Blick fällt von oben auf die Szene. „Manhattan im März. Ich sehe aus dem Fenster auf den Washington Square.“ Morgens um neun sieht die Beobachterin, die Romanistikprofessorin Barbara Vinken, Studenten auf dem Weg zur Uni, sieht die Doormen in ihren Arbeitsuniformen, die sich „um Straße und Vorgärten kümmern“. Ihr Blick streift Männer im vornehmlich schmal geschnittenem Anzug und entschuldigt zu dieser frühen Stunde das Fehlen der „Jungs im Gangster-Style“.
Zu sehen gibt es für die Dame am Fenster, eine der gelehrtesten und selbstbewusstesten Beobachterinnen, die sich denken lassen, ohnehin Wichtigeres, ja Sensationelles im Grunde. Eine neue Silhouette ist auszumachen. Für ein Buch über Mode heißt das Alarmstufe rot.
Es sind die Beine. Endlos lange Beine. Beine „in Leggings oder engen Hosen“, „in blickdichten Strümpfen“, „in Shorts und sehr kurzen Röcken“. Barbara Vinken wird eine These zu diesen Beinen wagen, und diese These wird, zumal in einer Zeit, da die modische Selbstinszenierung von Frauen nicht selten unter Aspekten der Spießigkeit oder, eng verwandt damit, als spätkapitalistische Vernuttung beschrieben wird, so spektakulär wie angreifbar sein: Frauen, das ist die These, tragen seit ungefähr zehn Jahren Beine wie nie zuvor in der Geschichte.
Barbara Vinken: „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“. Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 250 Seiten, 19,95 Euro
Neue Beine. Beine, die weit ausschreiten. Beine mit Sex und Esprit, die eben gerade nicht einer Lolita gehören. Man wird zustimmen, dass ein Buch über die Geschichte der Mode nicht optimistischer hätte beginnen können.
Damit man die Raffinesse dieser These nur gleich richtig versteht: Hier handelt es sich nicht um simplen feministischen Fortschrittsglauben. Es geht nicht darum, diese vermeintlich neuen Beine der Frau in Anspruch zu nehmen. Eher widmet sich dieses kluge wie eitle Buch dem Vergnügen.
Bereits der doppeldeutige Titel „Angezogen“ weist die Spur. So zieht man sich ja nicht einfach nur ein Paar Hosen an. Man ist auch nicht einfach angezogen, im Sinne von gewappnet für eine Familienfeier oder ein Bewerbungsgespräch. Nein, man ist ebenso angezogen wie betört und hingerissen. Die Mode ist eine Verführerin, eine skandalöse Macht, vor allem aber eine Lust, wenn man sie, und das tut Barbara Vinken, als ein Anderes der Moderne denkt.
Das erste Fashion Victim
Dazu wendet sich die Kennerin der französischen Kultur und Geschichte zurück zum „Großen Bruch“. Zur Französischen Revolution als dem Moment, in dem der Körper der Moderne unter heftigen Schmerzen geboren wird und sich die Inszenierung der Männer als der Bürger par excellence den Anzug zu ihrer staatstragenden Form erwählt, womit die bis dahin dem Verhüllen und ständischen Repräsentieren dienende Frauenmode nun zum Sinnbild der Mode wird.
Die Mode gilt mit dem Beginn der Moderne als weiblich, und Barbara Vinken zeigt uns in einem furiosen Kapitel, wie noch die Marie Antoinette des Ancien Régime ihr erstes Fashion Victim wurde.
Die Königin düpierte durch ihre Lust an der Mode zugleich den Hof und das Volk und bahnte „als Modekönigin“ auf diese Weise „der Königin Frankreichs den Weg zum Schafott“. „Erst nachdem es keine Königinnen mehr gab – und auch sonst alle Frauen aus Machtpositionen verdrängt waren, die die Männer jetzt republikanisch unter sich verteilten“, schreibt Vinken, „konnte Marie Antoinette als Königin der Mode gefeiert werden.“
Der Machtverlust wäre demnach die Voraussetzung für die legitime Beschäftigung mit Mode. Die Macht hat Wichtigeres zu tun, als ihre Potenz an modische Launen zu verschwenden. Sie verschluckt den einzelnen Männerkörper und bindet ihn an einen bürgerlichen Dresscode. Die Kapricen, diese im Sinne der Macht überhaupt lächerliche Besorgtheit um Stoffe und Farben, um Faltenwurf und die Nacktheit unter der Seide überlässt die Macht den Frauen, den Dandys, den Schwulen. Kurz, den Unterlegenen und ihren sinnlichen, hinfälligen Körpern.
Knapp gefasst ist es der Kampf „Anzug gegen Kleid“: englische Schneiderkunst gegen französische Haute Couture. Perfekter Schnitt gegen frivole Arabeske. Die Geschichte der modernen Mode, diejenige jedenfalls, die vom „kleinen Unterschied“ und nicht vom „feinen Unterschied“ erzählt, deutet die weibliche Mode als Feld, auf dem vor allem eines, nämlich Aufklärung nötig ist.
Die in diesem Sinne historisch markanten Lektionen heißen: Mantel. Sie heißen: Hose und Pullover. Und sie alle schwören auf das männliche Vorbild, auf die sportliche Bewegung und den straffen Körper der Tüchtigkeit. Coco Chanel leistete in diesem Sinne Unschätzbares. Insbesondere schenkt sie der Frau ein Kleid, das die Welt „das kleine Schwarze“ nennt.
Eine Uniform im Grunde, und Alexander McQueen, der bei Barbara Vinken ebenso glanzvoll vorkommt wie die österreichische Königin Frankreichs, hasste es. In einem Interview mit dem Fernsehsender CNN bekannte er übrigens, alles ihm Mögliche gegen dieses Kleid unternehmen zu wollen. Er bestand darauf, dass die Geschichte und ihre (verwundeten) Körper in der Mode sichtbar werden.
Exakt diese Perspektive teilt Barbara Vinken, und sie tut es, könnte man sagen: im luxurierenden Stil einer Haute Couture der Kunstgeschichte und in offenkundiger Polemik zur New Yorker Kunst- und Modehistorikerin Anne Hollander, die 1995 mit dem Buch „Anzug und Eros“ die Modernität des Anzugs als Aufklärungsideal der Mode gepriesen hat.
Der Anzug als Fiasko
Für Vinken ist das vollkommen anders: Gähnende Langeweile, tödliche Anpassung findet sie (zusammen mit Hegel) in den Anzugfalten. Ein Fiasko ist ihr diese Passform der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Körperkäfig, in dem die Männer (nach einem Begriff des englischen Psychoanalytikers John Carl Flügel) den „großen Verzicht“ ihrer Sinnlichkeit erleiden. Die Fähigkeit zur Verwandlung, zur Körperlichkeit bleibt der weiblichen Mode. Nur sie allein ist fähig zur Subversion.
Das beste Beispiel sind die neuen Beine der Frau. Ein Clou. Denn sie kommen gerade nicht aus der Moderne, und sie stammen von den Männern ab, aus der Zeit vor dem „Großen Verzicht“. Aus der Zeit zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, als, wie Vinken schreibt, „die Männer das schöne Geschlecht waren“.
Die Ironie ist schlagend: Indem Frauen die Beine der Männer zitieren, indem sie sich die Strumpfhosen-Beine der Renaissance-Gemälde in einer „Übersetzungsleistung“ in ihre eigene Mode herüberholen, greifen sie nicht nur nach Schönheit, sondern auch nach Macht. Es sind die Beine einer Siegerin. Einer Herrscherin.
Und man darf vermuten, Barbara Vinken hege Sympathie für die despotische Signatur dieser Geste der Revanche, für diese lustvoll-ironische Rache an allen Versuchen der Domestizierung. Ist die Mode doch „ein eigenartiger, manchmal als bedrohlich empfundener, manchmal heiß geliebter, meistens belächelter Fremdkörper im Herzen der Moderne“.
Eine Liebeserklärung an diesen Fremdkörper müsste man also Barbara Vinkens Modegeschichtsbuch nennen, würde das Wort „Liebeserklärung“ nicht entschieden zu bieder anmuten, um es diesem Text ans stolze Herz zu legen. Es schlägt für den „Kleiderraub“, für die „Kleiderlust“.
Kein modisches Wesen, schreibt Vinken, wolle im Augenblick ohne boyfriend pants erwischt werden. Der Leser zuckt zusammen. Ob die Behauptung stimmt? Ob die Mädchen auf dem Washington Square etwas über die Kühnheit der eigenen Beine ahnen? Das Buch gibt keine Rechenschaft über die schnöde Empirie, und ehrlich gesagt, es wäre auch unerheblich.
Die Interpretation ist zu anmutig, um ihr widersprechen zu wollen. Sie ist anschmiegsam gegenüber dem schönen Fremdkörper Mode, mimetisch. Am Schluss glaubt sie sogar, an den mythischen „Nabel der Mode“ selbst zu führen. Dort trifft sie die Königin Omphale und ihren Liebessklaven Herakles beim erotischen Kleidertausch. Der Halbgott, sonst an den Kampf gegen Bestien gewöhnt, genießt den Luxus weiblicher Mode. Omphale, im Löwenfell des Helden, genießt die Macht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“