Sachbuch über Berliner Biergeschichte: Die Hauptstadt des Brauens
Über die Geschichte des Bierbrauens hat der Historiker Henry Gidom ein Buch geschrieben. Darin rekonstruiert er die einstige Bierhauptstadt Europas.
Eng verknüpft ist die Geschichte der Brauereien in Berlin mit dem Aufstieg der Stadt: von der Hauptstadt des landwirtschaftlich geprägten Preußens zur Hauptstadt des Kaiserreichs und zur europäischen Metropole und der Industrialisierung.
Typisch für Berlin war dabei über Jahrhunderte ein Getränk, das Berlin im Namen führt: die Berliner Weiße. „Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war Bier ein Grundnahrungsmittel, kein Genussmittel“, sagt Gidom im Gespräch mit der taz. Der Alkohol verlangsamt das Keimwachstum: „Es war sicherer, Bier zu trinken als Wasser.“ Gebraut wurde zu Hause und in den Gastwirtschaften, die es an jeder Ecke gab. Die obergärigen Biere jener Zeit konnte man bei Zimmertemperatur in der heimischen Waschküche lagern.
Bei der Weiße habe dann der Zufall eine Rolle gespielt. „Wahrscheinlich haben Religionsflüchtlinge aus Frankreich im 17. Jahrhundert die Hefe dafür unabsichtlich in ihren Fässern mitgebracht“, so Gidom. So sei der leicht säuerliche „Champagner der Armen“ entstanden. Die Herkunft konnte man auch an den Namen ablesen: Die großen Weißbierbrauereien Landré und Bolle hatten französische Wurzeln.
„Bayrischbier“ in Berlin
Anfang des 19. Jahrhunderts brachten Brauer auf Wanderschaft aus Schlesien, Böhmen und Süddeutschland die untergärige Brauart in die Hauptstadt des gewachsenen Preußens. Dabei setzt sich die Hefe auf dem Boden ab, statt oben zu schwimmen. Seinerzeit sei dieses Bier in Berlin als Bayrischbier bezeichnet worden, so Gidom. Die Herstellung ist aufwendiger und dauert länger. Die Hefen benötigen einstellige Temperaturen. Im Mittelgebirge nutzte man dafür Felsenkeller. Die gab es im sandigen und häufig morastigen Berliner Boden nicht.
Doch neue Technologien machten es möglich, sozusagen künstliche Felsenkeller aus Gewölbe zu bauen. Deswegen und aus Platzgründen seien die Bierbrauer auf die Höhenrücken gezogen. An der Hasenheide, auf dem Kreuzberg oder dem Windmühlenberg – dem heutigen Prenzlauer Berg – entstand eine Vielzahl an neuen Brauereien.
Einige davon kann man noch heute im Stadtbild erkennen – oft werden sie anders genutzt, manche stehen leer. So war die heutige Kulturbrauerei einer der wichtigsten Standorte von Schultheiß, auf dem Areal der früheren Unionsbrauerei an der Hasenheide sind heute Wohnungen. Straßennamen wie Am Sudhaus oder An der Brauerei erinnern daran.
Oft betrieben diese Brauereien auch große Biergärten, so Gidom. Kundschaft gab es reichlich. Berlin wuchs. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten laut Volkszählung 172.000 Menschen in der Stadt, 1861 waren es bereits mehr als dreimal so viele.
Der nächste Schub in der Brauereitechnik kam mit der Hochindustrialisierung. Dampfmaschinen sorgten für Antrieb, und mit der Erfindung der Kältemaschine wurde die Produktion unabhängig von natürlichem Eis, das bis dahin im Winter aus zugefrorenen Seen gewonnen und eingelagert wurde.
Aber die neue Technologie war sehr teuer, erklärt Gidom. Solche Investitionen konnten sich nur die großen Aktienbrauereien leisten, die nach der Reichsgründung entstanden waren. Es kam zu einer Konzentrationswelle. „In dieser Zeit entstanden Giganten“, so Gidom. Schultheiß etwa übernahm die Großbrauerei auf dem Kreuzberg in der heutigen Methfesselstraße.
In dieser Zeit entstand auch der Direktvertrieb von Flaschenbier. Das untergärige Bier gärt nach der Abfüllung nicht nach und eignet sich deshalb besser für die Abfüllung in Flaschen. Ab 1880 wird Bier auch pasteurisiert und kann so weit transportiert werden. Die Entwicklung hat schon früher das Interesse der Wissenschaft erregt. Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann schrieb 1902 seine Doktorarbeit über „Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts“.
1905 sei der Höhepunkt erreicht gewesen, sagt Gidom. „Berlin war die größte Bierstadt Europas.“ Weltweit wurde nur in New York noch mehr gebraut. Doch der Verdrängungswettbewerb war auch der Anfang vom Ende. Die Qualität hatte gelitten, „Man sprach abfällig von ‚Dividendenjauche‘.“ Der Erste Weltkrieg traf die personalintensive Brauindustrie gleich an mehreren Stellen: Zuerst wurden die Lkws für das Militär eingezogen. Durch Seeblockade und den Krieg mit Russland fehlte es an Braugerste.
Die Lebensmittelknappheit führte zu Rationierungen. „Auch der Reichstag beschäftigte sich mit der Bierfrage.“ Zu einem Bierverbot kam es aber nicht: Bayern hatte Einspruch eingelegt. Die Zuteilung von Rohstoffkontingenten heizte aber die Fusionen und Übernahmen in der Branche so an, dass in Berlin nach dem Krieg nur noch die ganz Großen wie Schultheiß, Kindl, Engelhardt und Patzenhofer übrig waren. „Schultheiß und Patzenhofer fusionierten 1920 zur größten Brauerei der Welt.“ Nach einem weiteren Rückschlag durch die Hyperinflation erholte sich die Brauindustrie ab Mitte der 1920er Jahre wieder. Die Vielfalt war allerdings dahin.
Unter den Nazis wurde auch die Brauindustrie gleichgeschaltet. Jüdische oder sozialdemokratische Mitarbeiter oder Eigentümer wurden entlassen beziehungsweise enteignet. Die Keller wurden zur Rüstungsproduktion oder als Luftschutzbunker genutzt. Mit der Teilung Berlins wurde auch die Brauindustie auseinandergerissen. Den Brauereien im Westen fehlte fortan ein Teil des Absatzmarkts, im Osten fehlte es zunehmend an Rohstoffen.
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