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Sachbuch „Deutschland der Extreme“Thüringen extrem

Politik in Thüringen hat seit vielen Jahrzehnten ihre eigenen Gesetze. Ein neues Sachbuch fragt, was die Republik daraus lernen kann.

Vor den Wahlen in Thüringen: Björn Höcke (AfD) und Mario Voigt (CDU) im TV-Duell Foto: Michael Kappeler

Björn Höcke beeinflusst die AfD in Deutschland wie kein Zweiter. Dabei bleibt er nur in Thüringen, dem aktuell einzigen Bundesland, wo eine Minderheitenkoalition regiert, die wiederum der einzige Ministerpräsident der Partei Die Linke, Bodo Ramelow, anführt. Der ist mittlerweile seit mehr als neun Jahren im Amt – nur 2020 für einen Monat unterbrochen von Thomas Kemmerich, der als wiederum einziger FDP-Ministerpräsident von der AfD gewählt worden war.

Politik in Thüringen läuft eben etwas anders. Und doch lassen sich „nahezu alle wichtigen Konflikte der Bundesrepublik nachvollziehen“, schreibt der Journalist Martin Debes in seinem neuen Buch „Deutschland der Extreme: Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Zeitlich gut geplant vor der anstehenden Landtagswahl im September erzählt Debes darin, wie sich die parlamentarische Politik Thüringens entwickelt hat.

Debes berichtet niederschwellig, reichert den Text mit Hintergrunddetails an und verknüpft Personen, Daten und Ereignisse. Den Ereignissen nähert er sich chronologisch. Mit Höcke eröffnet der Prolog, mit Ramelow beginnt das erste Kapitel: der Fokus ist klar gesetzt. Aber er bleibt nicht dabei. Debes geht zurück zu den Anfängen des Landes vor gut 1.500 Jahren, trifft Überbleibsel des Thüringer Adels oder berichtet augenzwinkernd vom „Thüringer Meer“.

Er beschreibt eindrücklich, wie sich die NSDAP trotz Verbots in Thüringen breitmachte, dort schließlich das erste Konzentrationslager errichtete und Adolf Hitler in einem Weimarer Hotel die „Führersuite“ bezog.

Das Buch

Martin Debes: „Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert“. Ch. Links Verlag, Berlin 2024, 280 Seiten, 20 Euro

Kein homogenes Gebiet

Später legt Debes mit vielen Daten dar, wie das Leben für die Menschen in Thüringen nach der DDR aussah. Dabei wird auch deutlich, weshalb Debes betont: „Ostdeutschland ist kein homogenes Gebiet.“ Und wieder belebt er szenisch die Erzählung, etwa mit Helmut Kohls Rede 1992 auf dem Erfurter Domplatz vom anstehenden „blühenden Gemeinwesen“ Thüringens. So spannend dieser historische Abriss ist, die klare Stärke des Buchs liegt bei der aktuellen Politik.

Debes fächert auf, wie sich Po­li­ti­ke­r:in­nen in der CDU gegenseitig ausbooten, SPD-Genoss:innen zerstreiten oder ein Linker eine Christdemokratin im Parlament unterstützt. Dabei zeigt sich, weshalb Debes 2023 zum Regionalreporter des Jahres gekürt wurde. Der 1971 in Jena geborene Journalist zitiert nicht nur aus öffentlichen Quellen und eigens geführten Gesprächen, sondern auch mal aus SMS der Ministerpräsidenten.

Er erklärt, warum die Beobachtung durch den Verfassungsschutz Höcke nicht schadet

Bemerkenswert ist auch seine Auseinandersetzung mit Björn Höcke und der AfD. Auch hier leitet er über die historische Entwicklung zu den aktuellen Ereignissen hin. So macht er deutlich, wie geschickt Höcke sich in die Thüringer Politik eingegliedert hat, und erklärt etwa, warum die Beobachtung durch den Verfassungsschutz Höcke nicht schadet. Das ist auch aufschlussreich für das Agieren der AfD in der Bundesrepublik.

Die Analyse des angekündigten Transfers von Thüringen auf die Bundesebene fällt etwas dünn aus. Zudem bleibt alles, was sich abseits der Parteien abspielt, weitestgehend außen vor.

Immer wieder überraschend

Am Ende steht „Deutschland der Extreme“ aber vor einem großen Problem. Die Politik in Thüringen folgt nicht nur ihren eigenen Regeln, sie ist auch unbeständig, immer für Überraschungen gut. Wie sich Thüringens CDU-Chef Mario Voigt gegen Höcke bei Welt TV geschlagen hat, warum der wiederum in einem neuen Wahlkreis antritt oder dass Bodo Ramelow eine Koalition mit CDU und BSW nicht ausschließt, steht zum Beispiel nicht mehr im Buch.

Hat das Buch also spätestens mit der Landtagswahl ein Verfallsdatum? Nein. Denn die von Debes verdichtete Geschichte seines Heimatlands hilft auch darüber hinaus, Thüringen, Höcke oder Ramelow zu verstehen.

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2 Kommentare

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  • "Denn die von Debes verdichtete Geschichte seines Heimatlands hilft auch darüber hinaus, Thüringen, Höcke oder Ramelow zu verstehen."



    Um Thüringen zu verstehen muß mer zwei Wessis verstehen?!?



    Der eine (Bodo Ramelow hätte dafür sorgen können, daß es ned scho wieder in der EAE Suhl, die gnadenlos überbelegt ist (auch mit 800 Leuten), ne verschärfte Nacht gab: www.mdr.de/nachric...verletzte-100.html



    Bei dem anderen versteh ich ned, daß 2/3 von 30 % meiner "Freistaatsmitbewohner- und innen" den und seinen Haufen auch ned verstehen und damit ihre Lücken in Geschichte und humanistischem Staatsverständnis (bei dem anderen Dittel der Faschofans ist eh ideologisch das Kind mit dem Krug in den Brunnen geschmissen worden).



    So ne richtige Leseempfehlung ist die Rezension eher ned, ich frage mich allerdings immermal, wer*welche all die Bücher von Journalisten, Politikern, Leistungssportlern, Hochschulprofessoren (alle Personengruppen auch in weiblich und queer, die allermeisten Autor*innen sind cis-änner*lol*) kauft und liest.

  • Fein, so ein Buch wünsche ich mir auch über Hessen, die politische Hybris der Union ist da so groß, die brauchen noch nicht mal eine AgD, Lambrou und seine Truppe wirken da eher wie der kleine blasse Bruder.