Sabotage im Berliner Wahlkampf: Kampf der Wähler
Abgerissene Plakate, Pöbeleien am Infostand, drohende Nazis. In manchen Kiezen ist die Lage ernst. Doch nicht immer sind die Klagen der Politiker berechtigt.
Wohl nirgendwo sonst in der Stadt ist der Wahlkampf für die demokratischen Parteien so schwierig wie in Buch. Pöbeleien an ihren Ständen seien an der Tagesordnung, Materialien würden ihnen aus der Hand geschlagen oder zerrissen, plakatierte Straßenzüge über Nacht komplett leer geräumt, so Neumann.
Immer wieder komme es vor, dass sie von bekannten Personen aus der rechten Szene fotografiert würden. „Normalerweise stehen zwei bis drei Leute an einem SPD-Infostand, in Buch sind wir eher zu viert oder fünft“, sagt Neumann.
Auch beim Aufhängen von Plakaten ziehen die Genossen aus Buch nicht mehr wie üblich zu zweit mit einem Bollerwagen und SPD-Fahne los, sondern koordinieren sich in großen Gruppen – nachdem sie zuvor mehrfach von Personen verfolgt wurden. Die Angriffe der Rechten bezeichnet Neumann als „Revierverhalten“. Pankows NPD-Chef Christian Schmidt hatte im Februar angekündigt, einen „körperbetonten Wahlkampf“ führen zu wollen.
Auch anderswo ist's brenzlig
Die Lage in Buch ist speziell, doch auch anderswo kommt es zu Sabotageaktionen – aus unterschiedlichen Motiven. Nachbarn, die in der Neuköllner Weserstraße am helllichten Tag auf Leitern klettern, um NPD-Plakate zu entfernen, Fetzen von Linkspartei-Plakaten in Schöneweide oder großflächig bemalte Plakate des CDU-Spitzenkandidaten Frank Henkel – meist mit Bezug zur Rigaer94.
Die Plakate seiner Partei würden „massiv beschmiert, zerrissen oder verbrannt“, beklagte sich Henkel. Die bisher spektakulärsten Attacken des Wahlkampfs betrafen die CDU: Erst brannte Anfang des Monats ein Werbemobil der Partei in Staaken, dann wurden dem Neuköllner Kandidaten Onur Bayar die Reifen seines Privatautos zerschnitten.
Der Regierende Michael Müller, SPD
Mit der Klage über Aggressionen steht der Innensenator nicht alleine. In einem seltenen Akt der Einigkeit im Wahlkampf erklärten die Landesgeschäftsführer von SPD, Linken und Grünen vergangene Woche: „Wir sehen mit Sorge auf die steigende Anzahl von Angriffen auf Menschen, die sich im Rahmen des Wahlkampfes demokratisch engagieren.“
Raue Stimmung vor allem Online
Haben Politik- und Politikerverachtung sowie die Neigung zu Sabotage und Gewalt also in einem gefährlichen Maße zugenommen? Ganz so einfach ist es nicht. Fragt man bei den Parteien nach, zeigt sich ein differenzierteres Bild. „Was sich deutlich verändert und verschärft hat, ist die Kommunikation in den sozialen Netzwerken“, sagt etwa Linke-Pressesprecher Thomas Barthel. Beleidigungen wie „Judensau“ gehören dort schon zur Tagesordnung.
Plakate: Die Polizei registrierte bislang 210 Fälle, in denen ein oder mehrere Parteiplakate beschädigt oder zerstört wurden. Dabei wurden 89 Tatverdächtige ermittelt.
Geschädigte: 49 Aktionen richteten sich gegen die AFD, 40 bzw. 30 gegen CDU und SPD. Die NPD war 25 mal betroffen, Linke und Grüne 12 bzw. 11 mal.
Sonstiges: Mit einer Brandstiftung und fünf Körperverletzungen zählte die Polizei sechs Gewalttaten (im gesamten Wahlkampf 2011 waren es 30), vier Propagandadelikte (2011: 21) sowie 143 Sachbeschädigungen (2011: 218).
Doch Barthel gibt auch Entwarnung: Er habe „an Ständen schon wesentlich Schlimmeres erlebt“, sagt er, „Plakate werden nicht häufiger zerstört als in sonstigen Wahlkämpfen“. Bei der FDP heißt es lapidar: „Wir können über keine Angriffe oder Pöbeleien berichten.“
Und auch der Pressesprecher der Grünen, Julian Mieth, gibt sich verhältnismäßig gelassen: „Es gehört leider inzwischen zur Normalität, dass Wahlplakate zerstört oder beschmiert werden“, sagt er. Körperliche Angriffe habe es keine gegeben. Beobachten lasse sich aber, dass der Ton insgesamt rauer geworden ist: „Da hat man schon das Gefühl, dass sich die teils hemmungslosen Umgangsformen im Netz in die Wirklichkeit übertragen“ so Mieth.
Jammernde Rechte
Doch gerade aus der Rechten, die sich im Zuge der Flüchtlingsfrage enorm radikalisiert hat, ist das Jammern über Sabotageaktionen besonders laut zu vernehmen, es gehört geradezu zum inhärenten Teil der Wahlkämpfe von NPD und AfD. Dafür sucht die AfD etwa öffentlich nach Plakatzerstörern, in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern setzten Kreisverbände bereits Kopfgelder aus. Die AfD, die Demokratie allzu gern mit einem ersehnten Aufstand einer „Volksgemeinschaft“ verwechselt, sagt ernsthaft: „Am Zustand der Wahlplakate erkennt man den Zustand der Demokratie.“
Entgegen den zahlreichen Klagen der AfD und trotz Ausnahmezuständen wie in Buch, ist ein demokratischer Wahlkampf für die Parteien weiterhin möglich – oftmals auch problemlos. Und da, wo die Angriffe überhandnehmen, gilt das Wort vom Regierenden Michael Müller (SPD): „Das Wichtigste ist, sich nicht zurückzuziehen, auf die Straße zu gehen in die verbale, sachliche Auseinandersetzung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene