SPD ein Jahr nach der Zeitenwende: Diplomatie und Waffen
Die SPD-Fraktion debattiert sehr friedlich über ein Jahr Zeitenwende. Verteidigungsminister Boris Pistorius fremdelt geschickt mit seinem neuen Job.
Mützenich erinnert daran, dass sich auch bei der UN-Versammlung am 24. Februar 2023 Staaten, die die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, bei der Abstimmung über den Ukrainekrieg enthalten haben. Umso mehr müsse man auf Diplomatie setzen. Das meine nicht Verhandlungen mit Putin. Der, so Mützenich, klipp und klar, „will nicht verhandeln“.
Die oft missachtete Diplomatie sei nötig. Für viele Länder im Globalen Süden sei der 24. Februar eben keine Zeitenwende gewesen. Man werde eben auch Staaten, „die nicht unsere erste Wahl sind“, brauchen, wenn die Zeit der Verhandlungen komme.
Carlo Masala, Politikwissenschaftler, ist in Sachen Russland ein Falke und ist mit markiger Wortwahl durchaus ein Konterpart zu Mützenich. Doch auch Masala lobt Olaf Scholz' Reisediplomatie. Die Einbindung des Globalen Südens sei wichtig, ein partnerschaftliches Verhältnis zu Staaten wie Indien oder Brasilien „strategisch wichtig“. Und: „Das macht Olaf Scholz herausragend.“ Harmonie fast überall.
Waffenlieferungen und Diplomatie, so der solide Grundkonsens. Sogar Masala und Ralf Stegner, der die Fahne der alten militärskeptischen SPD hochhält, stellen leicht verblüfft fest, dass sie keinen grundlegenden Dissens finden können.
Meister des etwas vage Klingenden
Mützenich ist ein Meister der Andeutung, des etwas vage Klingenden, das entziffert werden muss. Er wählt fast immer allgemeine Formulierungen, ganz selten den persönlichen Angriff. Er kritisiert „die monothematische Diskussion“. Übersetzt heißt das: die törichte Verengung auf Panzerdebatten, anstatt das politische Feld zu betrachten. Für seine Verhältnisse ist der SPD-Fraktionschef deutlich.
Auch er habe Fehler zu bekennen, sagt Mützenich und lässt offen, wie viel Ironie in diesem Satz ist. „Aber ich bin irritiert, dass manche es schon immer gewusst haben.“ Und: „Die Entspannungspolitik trägt nicht die Verantwortung für den Überfall auf die Ukraine, sondern Putin.“ Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius betont, alle Entscheidungen der SPD in Sachen Russland seien nachvollziehbar gewesen.
Die Phase der Selbstkritik und Zerknirschtheit scheint in der SPD-Fraktion vorbei zu sein. Man hat das Gefühl, zu oft die erhobenen Zeigefinger von selbstberufenen Richtern gesehen zu haben. Das ist verständlich. Aber dieser Abschied von der Selbstkritik ist trotzdem sehr flott, sehr glatt.
Zackige Rhetorik mit Selbstdistanz
Laut Boris Pistorius braucht Deutschland auch für die Zeit nach einer Befriedung der Ukraine Sicherheit vor Putin. Also langfristig viel Geld. Pistorius versteht es, zackige Rhetorik mit Selbstdistanz und Fremdeln mit seiner Rolle als Verteidigungsminister zu verbinden. „Wir brauchen Abschreckung“, sagt er. Und: „Dass ich das mit 62 Jahren sagen muss, hätte ich mir nicht träumen lassen“.
Das kommt in der zum Teil militärkritischen SPD-Fraktion an. „Wir müssen viel Geld für Militär ausgeben“, so der Verteidigungsminister – und fügt hinzu: Das ist eine „furchtbare Vorstellung“. Ist das sympathisch – oder sehr geschickt? Wahrscheinlich beides. Pistorius ist noch nicht so lange im Amt. Man wird sehen, ob und wann diese Selbstdistanz verfliegt.
Ende März werden deutsche Leopard-Panzer in der Ukraine rollen. Deutschland hat schon für 3,4 Milliarden Euro Waffen geliefert und sehr effektive Mittel gegen russische Raketen, so der Verteidigungsminister. „Deutsche Waffen retten Leben in der Ukraine, auch wenn das zynisch klingt“, sagt Pistorius.
Auftritt Svenja Schulze, Ministerin für Entwicklung und Zusammenarbeit. Sie kommt gerade aus Ghana. Im Globalen Süden gebe es die Furcht, nicht mehr „wahrgenommen zu werden“, weil Deutschland oder Europa ausschließlich in die Ukraine schauen. 828 Millionen Menschen würden Hunger leiden, auch wegen des Krieges.
Pistorius fordert 10 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Zusätzlich zum 100-Milliarden-Sondervermögen. Die Schuldenbremse gilt wieder, das Geld ist knapp. Schulze konterte die Charmeoffensive des Verteidigungsministers, der mit angemessen schlechtem Gewissen das Nötige fordert, auch trickreich. Im Globalen Süden, sagt sie, schaue man genau „auf unsere Haushaltsverhandlungen“.
Bei denen wird es nicht so harmonisch zugehen wie auf diesem Podium.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland