SPD-Parteitag in Hannover: Der Peerteitag
Der Kandidaten-Kandidat Peer Steinbrück ist mit 93 Prozent zum SPD-Spitzenkandidaten gewählt. Er beschwört „mehr Wir und weniger Ich“.
Vollzug ist angesagt in Hannover. Beim Bundesparteitag der SPD wird an diesem Schneesturmsonntag Peer Steinbrück zum Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl im kommenden Jahr gewählt. Daran besteht kein Zweifel. Worum es aber geht – außer der Frage, wie viele der mehr als 600 Delegierten Steinbrück ihre Stimme geben und wie lang ihr Applaus nach seiner Wahl sein wird –, worum es also wirklich geht, ist keine Kleinigkeit.
Nach dem gründlich missglückten Start des Kandidaten muss Peer Steinbrück heute seine Genossinnen und Genossen hinter sich versammeln. Und er muss, fast noch wichtiger, die interessierten Wählerinnen und Wähler begeistern. Kann dieser Mann die Leute überzeugen? Nicht wenige hier sind skeptisch.
Johanna Klingbeil zum Beispiel. Die 21 Jahre alte Junggenossin ist aus ihrem Studienort Göttingen nach Hannover gekommen. Der Niedersächsin hat es eilig mit dem Stimmungsumschwung: Im Januar wird hier im Land gewählt. Stephan Weil heißt der Spitzenkandidat. Wenn die SPD gewinnen will, muss auch der Kanzlerkandidat überzeugen.
Kann er das? „Ich hoffe noch“, sagt die Jurastudentin. Sie hilft hier im Wahlkampf, bald auch bei der Bundestagswahl, aktuell unterstützt sie Weil. In den letzten Wochen lief es wegen Steinbrücks Nebenverdienstaffäre nicht so gut, „das haben wir zu spüren bekommen“. Klingbeil will heute Inhalte sehen. „Wenn er uns junge Genossen nicht beteiligt, wird es schwierig, im Wahlkampf seine Themen zu vertreten.“ Steinbrück muss liefern. Kann er das?
Der Geschichtserzähler
In seiner über eineinhalbstündigen Rede verweist der Kandidatenkandidat zunächst auf die 150-jährige Geschichte der Sozialdemokratie. „Ja, ich bin stolz, ein deutscher Sozialdemokrat zu sein!“, ruft er den Genossen zu. Erster Jubel. Dann stellt er auf die Nachkriegsgeschichte der Partei ab, auf die SPD-Kanzler, in deren Tradition er antritt – auf Willy Brandt, auf Helmut Schmidt und, ja, auch auf Gerhard Schröder, wegen dessen Agendapolitik die Partei viele Mitglieder und noch mehr Stimmen verloren hat.
Und Schmidt, der dürfe, weil er ein hervorragender Kanzler war, „auch im Fernsehen rauchen“. Der Altkanzler, in der ersten Reihe sitzend, zündet sich daraufhin unter dem Johlen der Delegierten erst mal eine Menthol an. Und Steinbrück hat ein wohliges Wir-Gefühl der versammelten Sozialdemokraten erzeugt.
Erneut Jubel, als er die steuerliche Gleichstellung der Homoehe, den Rechtsanspruch auf flächendeckende Kinderbetreuung und die deutsche Staatsbürgerschaft für hier geborene Kinder ankündigt. Nach all den alten Männern ein erster Schimmer von Modernität. Dass er sich deutlich gegen Rechtsradikalismus und für ein Verbot der NPD ausspricht, findet Johanna Klingbeil „richtig gut“. Bis jetzt, sagt sie, „spricht mich die Rede an“.
Steinbrück beginnt nun, den politischen Gegner zu attackieren. Er geißelt die Bankenpolitik, das Ende der Mittelschicht-Gewissheiten vom Aufstieg des Einzelnen, die Tatenlosigkeit in der Mietenpolitik. Es geht um die CDU als „Machtmaschine“ und deren einzigen Markenkern, „das einzige programmatische Angebot: die Vorsitzende selbst und sonst gar nichts.“
Mindestlohn, Solirente und Bildung
„Deutschland braucht wieder mehr Wir und weniger Ich“ – dies ist der bejubelte zentrale Satz, an dem sich der Kandidat von nun an wird messen lassen müssen. Und dieses Wir dekliniert Steinbrück jetzt durch: flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, armutsfeste Solidarrente, Reform des Niedriglohnsektors, bessere Schulen, reformierte kommunale Finanzen und schließlich – „eine sehr, sehr wichtige Forderung“, sagt Johanna Klingbeil – die gesetzliche Frauenquote. Dafür brauche er von den Genossen ein klares Bekenntnis zu Rot-Grün, „andere Anwandlungen können wir anderen überlassen“, frotzelt er.
So weit die Verheißungen und die Drohungen. Nun gilt es, die Genossen auf diesen Wahlkampf einzuschwören. Auf sie mit Gefühl! Er lobt die Fleißigen, die Pflegenden und die Eltern. Er mahnt vor der sozialen Kluft durch Bildungsarmut und Einkommensmillionäre, durch Minijobs und klamme Kommunen.
„Die ganze Bude kracht zusammen“, warnt er, „wir haben es inzwischen mit Parallelgesellschaften zu tun: eine unten, eine oben“. Für die Armen „brauchen wir einen starken Staat“. Deshalb wolle die SPD „einige Steuern für einige erhöhen – und wir werden das gut begründet machen“.
Er konkretisiert: Kapitaleinkünfte besteuern! Spitzensteuersatz erhöhen! Erbschaftsteuer rauf! Finanztransaktionssteuer einführen! „Wer daraus propagandistisch den Untergang des Abendlandes ableitet, den gewinnen wir sowieso nicht.“
Emanzipation durch die Quote
Der Koalition, ätzt er, passe das Heimchen am Herd gut in ihr Weltbild. Steinbrück verspricht, dass die SPD das Ehegattensplitting und Kinderfreibeträge reformieren wird. Er geißelt die Ungleichheit von Männern und Frauen, von Minijobbern und Tariflöhnern, den Pflegenotstand und die Zweiklassenmedizin.
Mit Blick auf das Frauen- und Familienbild verspricht er die gesetzliche Frauenquote. Und er kündigt an: „In meinem Kanzleramt wird eine Staatsministerin für Gleichstellung von Frauen und Männern zuständig sein.“ Klingbeil kommentiert das so: „Ich hoffe, er hält das ein.“
Die Energiewende und die Eurokrise erklärt Steinbrück zur Chefsache. Die Partei müsse „mit einer klaren proeuropäischen Haltung in den Wahlkampf ziehen“. Steinbrück zitiert emphatisch Brandts Diktum vom „ ’Volk der guten Nachbarn‘. Zurzeit sind wir das nicht“, mahnt er.
Zum Ende noch ein überfälliges, ein persönliches Wort. Der Weg nach Hannover, so der Kandidatenkandidat, „war mit Zumutungen gepflastert. Meine Vortragshonorare waren Wackersteine, die ich in meinem Gepäck habe und auch euch auf die Schultern gelegt habe. Ich danke euch, dass ihr mit mir diese Last getragen und ertragen habt.“
Wow, er ist ein Mensch
Als er sich schließlich gar bei der verschmähten Generalsekretärin Andrea Nahles für die freundliche Aufnahme im Willy-Brandt-Haus bedankt, sind die Delegierten hin und weg. Ein Mensch, dieser Steinbrück, tatsächlich. 11 Minuten Applaus, 3 mehr als für die Kanzlerin. Für den Moment hat er sie. Hier in Hannover.
Und dann wird das Ergebnis der Abstimmung bekannt gegeben: 93,45 Prozent der Delegierten haben Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt. Das sind ein paar Prozente weniger als letzte Woche bei der CDU mit Merkel, aber auch einige Prozente mehr als notwendig, um sozialdemokratische Geschlossenheit zu demonstrieren.
Noch einmal hat Johanna Klingbeil, die Jungsozialdemokratin aus Göttingen, das Wort: „Meine Hoffnungen haben sich erfüllt, bis auf die Reichensteuer. Aber auf Worte müssen jetzt Taten folgen!“
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