Russlands Einfluss in Großbritannien: „Sie wollten es nicht wissen“
Der britische Geheimdienstausschuss kritisiert die eigene Regierung scharf: Sie habe es vermieden, zu klären, ob Russland bei den Referenden mitmischte.
Die Untersuchung war 2017 unter Premierministerin Theresa May in Auftrag gegeben worden. Grund waren Mutmaßungen, wonach russische Unterstützung den Sieg der Brexiteers bei der EU-Volksabstimmung 2016 ermöglicht habe. Zuvor hatte es Berichte über russische Unterstützung der schottischen Unabhängigkeitsbewegung beim Referendum von 2014 gegeben. Die Untersuchung erfolgte ab 2018 unter dem Eindruck des Giftanschlags auf den russischen Exagenten Sergei Skripal in Salisbury, der die britische Öffentlichkeit aufrüttelte.
Ob Russland die Referenden zu Schottland und zum Brexit tatsächlich zu beeinflussen versucht hat, sagt der Bericht nicht direkt – zumindest nicht die veröffentlichte 55-seitige Kurzfassung. Sie verweist jedoch auf die US-Debatte um russische Einflussnahme auf Donald Trump und die US-Präsidentenwahl von 2016, in deren Folge auch die Regierung in London „die russische Bedrohung der demokratischen Prozesse und des politischen Diskurses im Vereinigten Königreich erkannt“ habe.
Dann merkt er in Bezug auf das EU-Referendum an: „Hätten die relevanten Teile der Geheimdienste eine ähnliche Bedrohungsanalyse vor dem Referendum durchgeführt, ist undenkbar, dass sie nicht zum gleichen Schluss bezüglich russischer Intentionen gelangt wären.“
Russland als „feindlicher Staat“
In der kodierten britischen Geheimdienstsprache ist das eine überdeutliche Anschuldigung. Der Bericht definiert Russland als „feindlichen Staat“ und bemängelt, dass Großbritannien sich zuletzt übermäßig auf Terrorabwehr fokussiert habe. Man müsse heute insbesondere im Cyberspace die Aktivitäten von „feindlichen Staaten“ analog zu denen von Terrororganisationen behandeln, fordert der Ausschuss.
Er verlangt, dem Kompetenzwirrwarr in digitalen Fragen – für die in der britischen Regierung das Kulturministerium zuständig ist – ein Ende zu setzen und diesen Bereich der Antiterrorabteilung des Innenministeriums und dem Inlandsgeheimdienst MI5 zu unterstellen. Die britischen Spionagegesetze müssten entsprechend reformiert werden und das Land brauche neue Gesetze gegen Geldwäsche und deren „Gehilfen“ in den britischen Finanz- und Immobilienmärkten. So weitreichende Forderungen erhebt die Londoner Geheimdienstwelt selten öffentlich.
Die britische Regierung – nicht nur die gegenwärtige, auch ihre Vorgänger – hätten sich um all dies nicht gekümmert, so der Bericht. Hinweise auf russische Einflussversuche auf die beiden Referenden habe die Regierung weder „gesehen“ noch überhaupt „gesucht“. In der Pressekonferenz dazu wurde der Abgeordnete Stewart Hosie noch deutlicher. In Bezug auf das Schottland-Referendum von 2014 sagte er: „Niemand in der Regierung wusste, ob Russland sich einmischte oder versuchte, das Referendum zu beeinflussen, denn sie wollten es nicht wissen. Sie vermied es aktiv, nach Belegen zu suchen.“
Pikant: Hosie gehört zur Schottischen Nationalpartei (SNP), der Seite der Unabhängigkeitsbefürworter, die von Russland unterstützt worden sein soll und verlor.
„Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Geheimdienste des Vereinigten Königreichs eine Einschätzung der möglichen russischen Einflussnahme auf das EU-Referendum vornehmen sollten und dass eine Zusammenfassung davon veröffentlicht werden sollte“, so der Bericht schließlich. Selbst wenn sich daraus nur „minimale Einmischung“ ergebe, „wäre dies eine hilfreiche Beruhigung für die Öffentlichkeit, dass die demokratischen Prozesse relativ sicher geblieben sind“.
Auch dies ist eine für britische Verhältnisse unüblich deutliche Mahnung aus dem Sicherheitsapparat an die Politik.
Neun Monate Verzögerung
Im Vorfeld der Wahlen vom Dezember 2019, die den Konservativen von Boris Johnson eine hohe absolute Mehrheit brachten, war berichtet worden, der Bericht werde Details über russische Parteispenden an die britischen Konservativen enthalten. Zumindest die veröffentlichten Fassung enthält weder solche Details noch irgendwelche andere. Doch bei der Pressekonferenz zu seiner Präsentation wurde die schon damals diskutierte Frage thematisiert, wieso der Bericht erst jetzt veröffentlicht wird, nachdem er schon im Oktober 2019 fertig auf dem Tisch von Premierminister Boris Johnson lag.
Labour-Ausschussmitglied Kevin Jones listete die Begründungen auf, mit denen das Büro des Premierministers damals die Veröffentlichung blockierte: man habe zu wenig Zeit zur Stellungnahme, der Ausschuss habe Verfahrensregeln gebrochen – „nicht wahr“, fügte Jones zu jedem Vorwurf an.
Einen Tag nach seinem Wahlsieg gab Boris Johnson den Bericht frei. Da musste das neugewählte Parlament erst mal seinen Geheimdienstausschuss neu konstituieren. Das zog sich hin. Der bisherige Ausschussvorsitzende Dominic Grieve, einer der profiliertesten konservativen Gegner Johnsons, war bei den Wahlen als Parteiloser angetreten und aus dem Parlament geflogen.
Johnson versuchte danach, einen loyalen Ausschussvorsitzenden durchzudrücken. Die Parlamentarier stellten sich quer und wählten am 15. Juli den Marinereservisten Julian Lewis aus den Reihen der Konservativen, eine Säule des Sicherheitsestablishments wie Grieve vor ihm, zum Vorsitzenden.
Erst danach konnte der neue Ausschuss den Bericht veröffentlichen. Lewis wurde aus der konservativen Fraktion ausgeschlossen. Und die Stimme der Geheimdienste im Parlament spricht jetzt der Regierung so deutlich, wie man es als Geheimdienst tun kann, das Misstrauen aus.
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