Russlands Angriffskrieg in der Ukraine: „Wir sind nur kleine Leute“
In dem unscheinbaren russischen Dorf Diktatura hat die Sowjetunion allerlei Ruinen hinterlassen. Doch verschwunden ist die Diktatur hier nie. Ein Ortsbesuch.
Tatjana Grischina kennt jede Ecke von Diktatura, sie ist hier aufgewachsen und nie weggegangen. „Einmal Moskau und zweimal Kyjiw, noch zu Sowjetzeiten. Für andere Abenteuer hat das Geld gefehlt. Und auch der Wille. Ich bin eine Diktatur-Seele“, sagt die 68-Jährige und lächelt verschmitzt. Mancher zweistöckige Plattenbau, einst der Stolz des Orts, ist nur noch ein Geisterhaus. Im Hof flattert bunte Wäsche zum Trocknen.
Diktatura ist ein Sackgassendorf, der Bus macht hier kehrt, Endstation. Moskau ist knapp 300 Kilometer nördlich. Knapp 400 Kilometer südwestlich liegt die Front. Drei Jahre Leid, Zerstörung, Verheerungen, die Russlands Präsident Wladimir Putin seit seinem Marschbefehl am 24. Februar 2022 nicht nur über die Ukraine, sondern auch über sein eigenes Land gebracht hat.
„Saschka, Wowan, Artur, Serjoschka, Mischka, Aljoscha.“ Tatjana Grischina zählt die Namen derer aus dem Dorf auf, die in den Krieg gezogen waren. Fast alle freiwillig. Einer ist verschollen, ein anderer tot. „Sie sind Patrioten, sie erfüllen ihre Pflicht“, sagt die Rentnerin und stapft weiter durch den Schnee, vorbei an verfallenen Holzhäuschen zur Essensaufbewahrung, den Mülltonnen mit einem aufgemalten Z, dem Zeichen der Unterstützung des Krieges, den brachliegenden Garagen. An einen Trümmerhaufen im Feld hat jemand „Pustota“ hingepinselt, Leere.
Leere überall
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Ein Wort, das den Zustand der Menschen im Land gut beschreibt. Äußerlich wie innerlich. Als würde das Schweigen sich im ganzen Land wie ein Sumpf ausbreiten und alles Lebendige, wenn es denn jemals da war, verschlingen. Hineinziehen in den Morast aus Verwerfungen und Beschönigungen.
Bloß nicht nachdenken! Nichts wissen wollen! Nichts fühlen! Nicht über Dinge sprechen, die Schmerzen verursachen, die Zweifel hervorrufen! Lieber verstecken in der Scheinwelt, in der jemand in verächtlichstem Schwarz-Weiß die Dinge seit Jahrzehnten stumpf wiederholt, bis sie scheinbar zur Realität werden. Eine Realität voller Angst und Ungewissheit. Mittlerweile tägliche Normalität.
Irgendwo in der Tiefe aber modert es weiter. Wie es all die Jahrzehnte zuvor moderte, weil niemand aus der Führungsspitze die Verantwortung für die Verbrechen übernommen hat, die der eigene Staat seinen Menschen antat und antut. Gewalt ist Staatsräson. Die Menschen tragen sie mit.
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„Wir haben fast alle Verwandte in der Ukraine“, erzählt Tatjana Grischina. Ihr Bruder war zu Sowjetzeiten nach Kyjiw gezogen. „Seine Familie spricht nicht mehr mit mir. Ich verstehe nicht, warum. Wir haben ihnen doch nichts getan“, sagt sie. Für sie ist das Thema damit erledigt. „Ach, Chochly“, schimpft sie immer wieder und gebraucht diese abwertende Bezeichnung, die Russlands Propagandist*innen und Nationalist*innen für Ukrainer*innen benutzen. „Sie sind doch eh unser russisches Volk“, sagt sie.
Nichts infrage stellen
Tatjana Grischina wiederholt die Sätze, die sie Tag für Tag im Fernsehen hört. Sie stellt sie gar nicht infrage. Wie auch, wenn sie ihr Leben lang gelernt hat, nichts infrage zu stellen? Sie versorgt ihr Haus, besucht manchmal die Töchter, die längst weggezogen sind aus Diktatura, die Enkel, den Urenkel. „Kluge Leute machen sich Gedanken über das Leben. Kluge Leute haben auch mehr Kopfweh als ich.“
Hunde bellen an jeder Ecke, Hühner gackern. Ein beißender Wind fegt über die Felder, irgendwo am Dorfrand repariert jemand sein Auto. Tatjana Grischina läuft fast täglich die Wege durch den Ort. In der Bibliothek hat die Rentnerin noch eine Viertelstelle, das gibt zu ihrer Rente von umgerechnet 150 Euro noch 80 Euro dazu.
Seit 50 Jahren arbeitet sie dort, sortiert Bücher, notiert handschriftlich die Ereignisse im Dorf. Ein neues Denkmal für die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg, ein Besucher aus Frankreich, weil dessen Vorfahr noch aus dem zaristischen Russland geflüchtet war, Neujahrsfeiern, Leseabende. Mit bunten Stiften unterstrichen, ausgedruckte Bilder aufgeklebt.
„Ach, da waren wir alle noch so jung und schön. Schön waren die Zeiten in der Sowjetunion“, sagt sie. Auch ihre jüngeren Bekannten Inessa und Swetlana, die sie im Kontor des Dorfunternehmens antrifft, betonen immer wieder „die schöne Sowjetzeit“. Das Werk baut Getreide für eine Geflügelfabrik in der Regionalhauptstadt Tula an und liefert Raps und Sonnenblumen für eine Butterfabrik in die nächstgrößere Stadt Orjol.
Im Griff der Vergangenheit
„Früher hatten wir Kühe, Schweine, Geflügel. Das Leben brodelte“, sagt Inessa und klingt bedauernd. „Niemand hat Russland je als Partner gesehen, alle wollten es vernichten. Und wir haben uns in den Neunzigern, als hier alles brach lag, mit leckeren Essenspaketen aus dem Westen kaufen lassen. Was schmeckten mir damals als Jugendlicher die Kaugummis!“, sagt Swetlana. „Aber wir lassen uns nicht mehr kaufen. Wir machen jetzt alles selbst.“
Sie sitzen am dunklen Tisch im Kontor, trinken Tee, essen den selbst gemachten Speck. „Wir sehen von hier aus täglich die Ruinen unseres früheren Kontors, unsere Sowjetvergangenheit lässt uns nie los“, sagt Inessa. In den Neunzigern war sie aus der Nähe nach Diktatura gezogen. Sie hatte einen Mann kennengelernt, hier einen Job als Buchhalterin gefunden. „Wo du geboren bist, da wirst du auch Verwendung finden“, sagt sie voller Passivität den wohl russischsten Satz, den auch Tatjana Grischina gern gebraucht.
Im Jahr 1932 hatten die Bolschewiki hier ein Dorf für die „Unerwünschten“ errichten lassen, die Opfer der Repression des Stalin-Regimes, die sich stets mehr als 100 Kilometer von städtischen Zentren anzusiedeln hatten. „Diktatur des Proletariats“ hätte der Ort in der weiten, flachen Landschaft heißen sollen. Geblieben ist nur Diktatura, bis heute.
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„Ein blöder Name“, sagt Inessa. „Ein Name, für den ich mich früher geschämt habe, ich wünschte, mein Dorf könnte etwas positiver klingen“, sagt Tatjana Grischina. „Wir kommen aus Diktatur, wie klingt denn das?“, fragen beide fast gleichzeitig. Wie etwas Wahres? Die beiden lachen laut und wehren sofort ab: „Wir verstehen nichts von Politik, wir sind der Politik vollkommen fern. Wir sind einfache Leute. Wir können gar nicht beurteilen, was so los ist in der Welt. Wir leben nur unser bescheidenes Leben.“
Per Knopfdruck abgestellt
Sätze, die einem Propagandalehrbuch zu entspringen scheinen. Einem Werk, das beschreibt, wie Menschen jegliches Selbstwertgefühl und jeglichen Zweifel verlieren und sich quasi freiwillig zum Spielball von Herrscherinteressen machen sollen. Die der Chance beraubt werden, zum Bürger oder zur Bürgerin des eigenen Landes zu werden, zum politischen Subjekt mit Rechten. Zum Ich. Sie finden sich ab damit. Sie wiederholen menschenverachtende Sätze, erliegen zynischen Narrativen und sprechen über eigene Wunden so schmerzfrei, als hätten sie ihre Gefühlsverarbeitung im Gehirn einfach per Knopfdruck abgestellt.
„Wir sind doch nur kleine Leute“, sagt Tatjana Grischina. „Wir kennen nur Gutes. Wir wollen auch unseren Kindern nur Gutes beibringen. Wir erzählen ihnen zum Beispiel viel über die militärische Spezialoperation. Über unsere Helden. Über unseren Präsidenten, der unser Land von den Knien erhoben hat.“
Sie sagt das so nüchtern und sachlich, wie sie fast alles nüchtern und sachlich sagt. In ihrem Leben ergibt all das Sinn. Das Gute sei das, was der Staat sage. Dem Staat dürfe man nie widersprechen. Sonst sei man ein Verräter, ein ausländischer Agent, ein Feind. So sei das immer schon gewesen.
„Es ist so, nichts zu machen“, ist ein Satz, der scheinbar mit ihr verwachsen ist. Die Heizung in ihrer Bibliothek läuft seit Jahren nicht mehr? Ihre Rente reicht kaum zum Leben? Der Enkel ihrer Nachbarin ist gefallen? „Es ist so, nichts zu machen.“
Täglich vier Stunden Fernsehen
Im Fernsehen daheim: Kriegsrauschen samt Hassgebrüll. „Mindestens vier Stunden täglich. Ich schaue mir das alles an und verstehe doch nicht, was Sache ist. Haben wir denn wirklich die Ukraine überfallen? Sind wir denn wirklich schuld? Das kann nicht sein. Wir sind Sieger, wir waren immer Sieger. Auch diesmal werden wir siegen und dann der ganzen Welt verzeihen, weil sie uns so schlecht behandelt hat“, sagt sie. Nüchtern. Sachlich.
Sie packt ihre Plastiktüte zusammen, macht sich auf zur Schule. 1989 war der graue Plattenbau für 200 Schüler*innen gebaut worden, unterrichtet werden da zurzeit lediglich 13 Jungen und Mädchen. Mit ihnen will Tatjana Grischina an diesem Nachmittag Karten für die Soldaten an der Front malen.
„Schade nur, dass unser Klub verfallen ist, sonst hätten wir dort genügend Platz zum Flechten von Tarnnetzen.“ Ein freundliches Gesicht hat sie. Ein gütiges, das Schaudern hervorruft. Es gibt viele solcher Gesichter in Russland. Einen Ort namens Demokratie gibt es in Russland nicht.
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