Russisches Militär in Syrien: Gefährliches Kalkül
Russische Kampfflieger bombardieren syrische Ziele – allerdings nicht die vom IS kontrollierten Gebiete. Putin hat ganz andere Interessen.
Die Opfer sind Zivilisten, Revolutionäre und gemäßigte Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA). Denn Kafr Nabul, im Norden von Hama gelegen, ist das mediale Epizentrum der syrischen Revolution, seit 2011 berühmt für die farbigen und scharfsinnigen Plakate, die nicht nur den Krieg, sondern vor allem das Versagen der internationalen Gemeinschaft anprangern. Der Islamische Staat (IS) hingegen ist 100 Kilometer weiter östlich aktiv, auch die Nusra-Front, der syrische Ableger von al-Qaida, ist hier bislang erfolgreich abgewehrt worden.
Kafr Nabul ist kein Einzelfall. Die mehr als 60 Ziele der russischen Angriffe liegen überwiegend in den Provinzen Idlib und Hama sowie im Umland von Homs und nördlich von Latakia. Dass diese Orte attackiert wurden, ist unstrittig: Russland und das Regime von Baschir al-Assad nennen die Namen, die Aktivisten, Journalistenund Rebellen vor Ort bestätigen. Damit entlarvt sich Moskaus Antiterrorpropaganda selbst. Denn keine der bombardierten Gegenden wird vom IS kontrolliert.
Der Kreml veröffentlicht Luftaufnahmen von präzisen Schlägen auf vermeintliche IS-Stellungen bei Hama. Der örtliche FSA-Kommandeur sagt: Ja, das war unser Hauptquartier. Die zivilen Rettungskräfte der White Helmets dokumentieren den Tod eines Kollegen durch einen russischen Doppelangriff in der Provinz Idlib. Im Norden der Provinz Latakia bestätigt ein Mitarbeiter von Ärzte Ohne Grenzen den Einschlag einer russischen Rakete 50 Meter neben einem Krankenhaus, das evakuiert werden musste.
Nach Assads Abgang
Was also tut Russland in Syrien? Vordergründig hilft Putin seinem Verbündeten Assad. Er lässt dort angreifen, wo das Regime von verschiedenen Rebellengruppen bedrängt wird.
Aber es steckt mehr dahinter. Mittelfristig geht es Putin nicht um Assad, sondern um Moskaus Einfluss in der Region. Russland bereitet sich auf die Zeit nach Assad vor – egal was folgt, ohne Moskau wird es nicht gehen. Gleichzeitig treibt Putin den Preis nach oben, den der Westen ihm für den Abgang Assads zahlen muss. Das ist ein makabres geostrategisches Spiel.
Aber der Kreml könnte sich verkalkulieren: Er hat die Auswirkungen seiner Militärkampagne auf die Menschen im Land nicht genügend bedacht. Diese lässt Assad nicht stark, sondern schwach erscheinen, auch die Küstenbewohner sehen Assad zunehmend als Marionette in den Händen der Iraner und Russen.
Für die Rebellen – die gemäßigten der FSA wie die islamistischen, die zum Teil mit der Nusra-Front zusammenarbeiten – ist Russland jetzt erklärter Feind. Angriffe auf russische Militärbasen sind in Planung, die ersten getöteten russischen Soldaten werden Putin zu Hause in Erklärungsnot bringen.
Russland als Hassobjekt
Für den zivilen Widerstand hat sich Putin als Vermittler disqualifiziert. Und die Menschen, die jetzt nicht mehr nur Assads unpräzisen Fassbomben, sondern auch modernen russischen Raketen ausgesetzt sind, werden das Land verlassen, sich radikalisieren oder in ihrer Verzweiflung Schutz beim IS suchen.
Langfristig tappt Moskau in die bislang für Amerikaner reservierte George-W.-Bush-Falle: Direktes militärisches Eingreifen mit vielen zivilen Toten lenkt den Hass breiter Bevölkerungsteile auf die Fremdherrschaft. Im Falle Putins ist es die offensichtliche Unterstützung des Massenmörders Assad, der – als Alawit mit schiitischer Unterstützung des Iran und christlicher Hilfe Russlands (der Kreml holt sich dafür sogar den Segen der orthodoxen Kirche) – das syrische Volk vernichtet. Damit wird Russland zum Hassobjekt der Sunniten in der Region. Das meinte US-Präsident Obama, als er die Unfähigkeit Moskaus, zwischen gemäßigten Assad-Gegnern und dschihadistischem Terror zu unterscheiden, als „Rezept für eine Katastrophe“ bezeichnete.
Wie geht es also weiter? Für den Beginn einer Lösung in Syrien müsste dreierlei passieren: Erstens müssten die Unterstützer der syrischen Opposition entschlossener und geeinter auftreten. Schließlich greifen aufseiten des Regimes zwei Staaten (Iran und Russland) und eine Miliz (libanesische Hisbollah) in das Kriegsgeschehen ein. Jetzt will Washington mit 20.000 kurdischen und 5.000 arabischen Kämpfern den IS in dessen syrischer Hauptstadt Rakka bedrängen. Sollte Russland sich daran nicht beteiligen, wäre das russische Märchen vom internationalen Kampf gegen den IS vorbei, ehe es begonnen hat.
Schutz der Zivilisten
Zweitens sollten Verhandlungen darauf abzielen, staatliche Strukturen in Syrien zu bewahren, denn das wollen sowohl die USA als auch Russland. Wer Syriens Staatlichkeit retten will, braucht einen politischen Übergang, aus dem sich Assad besser früher als später verabschiedet.
Wenn Russlands Außenminister Sergei Lawrow es also ernst meint mit seiner Vorstellung, dass „das gesamte Spektrum der syrischen Gesellschaft sich auf einen säkularen demokratischen Staat einigt, der alle Minderheiten schützt“, und dass die Freie Syrische Armee und andere „patriotische Oppositionelle“ Teil dieses politischen Prozesses sein müssen, dann sollte er zunächst dafür sorgen, dass ebendiese Kräfte nicht mehr bombardiert werden.
Was zum dritten Punkt führt, dem Schutz von Zivilisten. Bei allem, was in Syrien geschieht – politische Verhandlungen, Kampf gegen den IS –, muss sich gleichzeitig die Lage der Menschen vor Ort verbessern. Mit Bomben auf Zivilisten lassen sich weder Fluchtursachen bekämpfen noch politische Kompromisse schließen noch der IS bekämpfen.
Angeblich zeigt sich Putin für die Einrichtung humanitärer Korridore offen. Das wäre ein erster Schritt – bitte mit UN-Mandat und bitte schnell.
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