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Russischer Filmexperte Naum Kleiman„Das Kino lehrt mitzufühlen“

In Moskau hat Naum Kleiman ein Filmmuseum gegründet, leiten darf er es nicht. Er kämpft für Geschichtsbewusstsein – und wird auf der Berlinale geehrt.

Multitalent: Naum Kleiman. Bild: Wolfgang Borrs
Interview von Barbara Kerneck

Naum Kleiman empfängt seit zehn Uhr früh JournalistInnen im Halbdunkel seines Hofzimmers im Hotel Savoy in der Berliner Fasanenstraße. Alles ist aufgeräumt wie er selbst. Vor den goldenen Lampenschirmen glänzen seine feinen, dichten Haare und das Brillengestell silbern. Allein heute gibt er fünf Interviews. Die Medien reißen sich um ihn. Dazu kommen offizielle Termine, Treffen mit Eisenstein-Experten aus aller Welt und einfach Freunden. Kleiman spricht hervorragend Deutsch und ist oft im Lande. Auf dem Couchtischchen vor ihm liegt eine taz. Er sagt: „Die kaufe ich jedes Mal, wenn ich herkomme.“

taz: Herr Kleiman, herzlichen Glückwunsch zur Berlinale Kamera!

Naum Kleiman: Der Preis ist eine Geste zur Unterstützung für unser Museum. Er ist nicht nur eine große Ehre für mich persönlich, sondern gibt mir auch große Hoffnung.

Sie waren in letzter Zeit schweren Angriffen ausgesetzt. Donnerstagabend und am Sonntag zeigt die Berlinale Tatjana Brandrups Dokumentarfilm „Cinema – A Public Affair“ über Sie und das Moskauer Filmmuseum. Darin sprechen Sie über Ihr „elftes Gebot“: Du darfst keine Angst haben! Können Sie sich daran halten?

Hat man nichts verbrochen, braucht man auch keine Angst zu haben.

Ihr Museum, einst Teil des Verbandes der Filmschaffenden, untersteht inzwischen dem Kultusministerium. Als Hauptopponent Ihrer Mannschaft tritt der Regisseur Nikita Michalkow auf, als Vorsitzender des Verbandes. Hatte der ihn nicht schon einmal abgewählt?

Ja, aber er organisierte damals irgendeinen Parallelkongress und ließ sich wiederwählen. Faktisch leitet er heute den Verband.

Ende 2005 wurden Sie gezwungen, das eigens um Ihr Museum herum erbaute Kinozentrum im Stadtteil Krasnaja Presnja zu verlassen; seitdem kämpfen Sie um einen neuen Standort. In Russland gibt es heute viele Fälle von sogenanntem Rejderstvo [von engl.: raider = Plünderer]: Unternehmen und Institutionen werden mithilfe von Banditen, durch Erpressung und Gerichtsurteile zwangsenteignet und von Günstlingen hochgestellter Leute übernommen. War das solch ein Fall?

Im Interview: Naum Kleiman

Der 1937 geborene Filmwissenschaftler, Dozent und Regisseur war stets für seine weltoffene Haltung bekannt. Ab 1961 studierte er Filmgeschichte in Moskau. Später begründete er das Sergei-Eisenstein-Archivs und 1989 das Moskauer Filmmuseum Musey Kino. Es verwaltete zuletzt eine 150.000 Objekte umfassende Sammlung und zeigte etwa 500 Filme pro Jahr. Als dessen Direktor setzte das russische Kultusministerium Kleiman im vergangenen Sommer ab und berief eine neue Direktorin.

„A Public Affair“. Heute, Delphi, 16.30 Uhr; 15. 2., Akademie der Künste, 14 Uhr.

Reinsten Wassers. Michalkow hat es angeblich verkauft. Jedenfalls betreibt dort ein Unternehmer ein Multiplex. Sein Name bleibt ein Geheimnis.

Unter derartigen gewaltsamen Übernahmen leiden heute in Russland besonders kulturelle Institutionen, aber auch wissenschaftliche Einrichtungen.

Es gibt den Begriff „Konjunkturritter“. Solche Leute wissen, dass sie nur für eine kurze Zeit über Macht verfügen. Sie sind weder fachlich legitimiert noch vom Volk gewählt, sondern auf undurchsichtige Weise an die Macht gekommen. Sie hassen die Beschäftigung mit der Geschichte. Jeder wissenschaftliche Beweis für bestimmte gesetzmäßige Weiterentwicklungen von der Industrie bis zur Kunst zeigt ja, wann es Fortschritte gab. Diese Konjunkturritter können es nicht gebrauchen, dass die Leute in ihnen eine kranke Tendenz erkennen. Deshalb würgen sie, rein instinktiv, alles ab, was für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den verschiedensten Gebieten steht.

Russland hat seine Vergangenheit noch nicht verdaut.

Wir haben uns noch nicht einmal die Traditionen unseres eigenen Kinos angeeignet. Die Methoden großer Regisseure wie Eisenstein, Wertow oder Pudowkin hat man im Westen sehr viel besser auf als bei uns aufgearbeitet. Hier heißt es entweder: „Wir haben nur Fehler begangen“, oder: „Früher war alles besser!“ Einmal, nach einer Vorführung von Marlen Chuzijews Film „Ich bin zwanzig Jahre alt“ aus dem Jahr 1965, kam eine Frau zu mir und sagte: „Danke! Ich verstehe jetzt meine Mutter viel besser.“ Filme zeigen, wie Menschen sich inmitten tragischer Umstände heldenhaft gehalten haben. Das Kino liefert uns keine Rezepte, aber es lehrt uns, mitzufühlen und mitzudenken. Es ist eine hervorragende Schule. Es hilft unseren Zuschauern, sich aus Schräubchen und Rädchen in mündige Bürger zu verwandeln.

Der russische Regisseur Alexander Kontschalowski meint, die russische Bevölkerung in der Provinz sei in der Entwicklung zur Civil Society vierhundert Jahre hinter den Bewohnern der westlichen Welt zurück.

(Kleiman lacht) Wir haben in der Bevölkerung sehr viele unterschiedliche Niveaus, und die Menschen bei uns lernen manchmal sehr schnell. In meinem Leben hat es mehrere historische Sprünge gegeben. Der polnische Satiriker Stanislaw Jerzy Lec sagte einmal: „Jedes Jahrhundet hat sein eigenes Mittelalter.“ Die Stalinzeit war unser Mittelalter im 20. Jahrhundert. Dann begann mit dem Tauwetter unter Chruschtschow eine Zeit der Aufklärung. Die brach dann wieder ab. Aber sie setzte sich fort wie ein Fluss, der eine Weile unterirdisch verläuft. Das habe ich einige Male miterlebt: Für eine Zeit kommt der Fluss hervor, dann taucht er wieder unter. Und dort unten finden natürliche Umgruppierungen statt.

Was tut sich jetzt in dem unsichtbaren Fluss?

Ich bin in letzter Zeit viel in Russland herumgereist und treffe überall sehr viele arbeitsfreudige Menschen. Sie packen an, ohne zu klagen. Ich war gerade in Perm im Ural, kommuniziere mit sibirischen Städten, mit Leuten im Altai-Gebirge. Zunehmend sehe ich Menschen, die in allen möglichen Projekten viel Eigeninitiative an den Tag legen. Das hält Russland im Moment über Wasser und lässt für die Zukunft Gutes erwarten. Gebe Gott, dass da nicht wieder Gegentendenzen die Oberhand gewinnen, zum Beispiel infolge eines provozierten Krieges.

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1 Kommentar

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  • Ich werde mich schwer hüten eine Aussage darüber zu treffen, wie "die russische Bevölkerung in der Provinz" so drauf ist. Dass der Künstlersohn und Möchtegern-Intellektuelle Alexander Kontschalowski zeitgeschichtlich allerdings mindestens 240 Jahre hinter Naum Kleiman her hinkt, scheint mir eindeutig zu sein. Es gab schließlich nicht nur Aristotekles inzwischen, es gab auch Jean-Jacques Rousseau. Wenn also Kontschalowski nicht zu jenen „Konjunkturritter[n]“ und „Rejderstvi“ gehört, die jede "Beschäftigung mit der Geschichte [hassen]", müsste ihm der Begriff "Individuum" eigentlich was sagen.

     

    "Die russische Bevölkerung" gibt es nicht. Nicht einmal "in der Provinz". So wenig, wie es DIE "Bewohnern der westlichen Welt" gibt. Die einen können also unmöglich "vierhundert Jahre hinter den [anderen] zurück [liegen]". Das darf allerdings einen Mann wie Kontschalowski, der sein Heil seit Beginn der 80-er vor allem im Westen gesucht hat (und offenbar noch immer sehr gern finden würde), nicht zu interessieren. So jemandem muss es wichtiger sein, dem westlichen Durchschnittstrottel Honig ums Maul zu schmieren. Und wie geht das am leichtesten? Ganz klar: In dem man ihn verbal untrennbar mit all jenen Leuten verklebt, die den sogenannten Fortschritt symbolisieren (möchten).

     

    Naum Kleiman tut das nicht. Er trennt fein säuberlich zwischen denen, die "in allen möglichen Projekten viel Eigeninitiative an den Tag legen", und denen, die "weder fachlich legitimiert noch vom Volk gewählt, sondern auf undurchsichtige Weise an die Macht gekommen" sind und da, weil sie es können, "rein instinktiv, alles ab[würgen], was für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den verschiedensten Gebieten steht". Vor dieser Sorte aber gibt es viel zu viele, scheint mir. Immer noch, und ganz sicher nicht allein in Russland.