Russische Militärstrategie in der Ukraine: Die Hölle von Charkiw

Russische Truppen greifen Charkiw gezielt an, um so ukrainische Truppen vom Donbass fernzuhalten. Dabei sterben täglich Zivilist:innen.

Eine Frau bricht einer Leiche zusammen, sie wird von einem Mann tröstend gehalten

Charkiw, 20.4.: Yana Bachek zeigt ein Foto ihrer Eltern, der Vater wurde auf der Straße erschossen Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

CHARKIW taz | Es fühlt sich an wie die Hölle: In der ostukrainischen Stadt Charkiw werden die Angriffe seit einigen Tagen immer zahlreicher und brutaler. Aus dem Norden beschießen russische Truppen die Stadt mit Panzern, Artillerie, Mörsern und Raketenwerfern. Fast alle Angriffe zielen mittlerweile auf Wohngebiete im Zentrum. Damit steigt die Zahl der getöteten Zi­vi­lis­t*in­nen mit jedem Tag deutlich.

„Du zerbrichst dir den Kopf darüber, wer den Sohn großzieht, wenn einer von uns stirbt. Du überlegst, wessen Tod wohl,besser' wäre. Bisher habe ich nie daran gedacht. Doch diese Gedanken machen mich jetzt wahnsinnig“, sagt Julia, die als Freiwillige arbeitet. Erst im vergangenen Dezember zog sie in eine Wohnung im Stadtteil „Traktorenwerk“ (CHTS). Am vergangenen Sonntag schlug in ihrem Hof eine Bombe ein. Nach­ba­r*in­nen starben, mehrere Personen wurden verletzt und vor den Hauseingängen gingen Autos in Flammen auf.

Betroffen sind von den Angriffen vor allem die Stadtteile Saltowka, Severnaja Saltowka, Novije Doma, CHTS und das historische Zentrum. Angaben von Militärbeobachtern und Ver­tre­te­r*in­nen der Stadtverwaltung zufolge ist diese veränderte Situa­tion dem Beginn der nächsten Phase des russischen Angriffskriegs geschuldet – der Schlacht um den Donbass.

Die Angriffe auf die Stadt werden gezielt durchgeführt, um so das ukrainische Militär zu binden und zu verhindern, dass es in die Gebiete von Izyum, Slowjansk und Kramatorsk abgezogen wird. Zudem machen die Angriffe es den ukrainischen Streitkräften unmöglich, die Kommunikations- und Versorgungswege der russischen Besatzer im Nordosten der Region zu unterbrechen. Rund 22.000 russische Soldaten sind derzeit in dem Gebiet rund um die Stadt Izjum positioniert.

Bisher wollte Julia noch nicht fliehen. Und das, obwohl sie bereits drei Angriffen auf ihr Haus nur knapp entkommen ist. Das erste Mal war sie gerade bei ihrem Bekannten, als ihr Haus beschossen wurde. Beim zweiten Mal hatte sie ihrem Mann das durch russische Kalibr-Raketen zerstörte Gebäude der Charkiwer Regionalverwaltung zeigen wollen, einen Umweg gemacht und ist so ein paar Minuten später in den Hof zurückgekehrt. Das dritte Mal hatten Leute, die sich derzeit in der U-Bahn aufhalten, Julia dazu überredet, Pfannkuchen mit ihnen zu ­essen. „Alle sagen mir, dass Gott mich beschützt. Das ist wohl so. Aber vielleicht gibt er mir auch ein Zeichen“, sagt die junge Frau.

Die Beraterin des Leiters des Regionalrats von Charkiw, Natalja Popowa, ist sich sicher, dass die russischen Angriffe bewusst Zi­vi­lis­t*in­nen treffen sollen. „Die Gesamtzahl der Angriffe auf Wohnviertel hat zugenommen. In Charkiw selbst gibt es nur wenige sensible Objekte. Wohin auch immer sie schießen, die Geschosse schlagen in Bäckereien, Cafés, Schulen und Kindergärten ein“, sagt sie. Popowa erklärt sich die barbarischen Angriffe damit, dass die russische Armee seit mehr als 50 Tagen weder Charkiw erobern noch durch die Region Charkiw bis in den Donbass vordringen konnte.

Russland wird hysterisch

„Sie versuchen, die Gebiete Donezk und Luhansk abzuschneiden“, sagt sie. Russland werde hysterisch, da die ukrainische Armee den Schlägen bisher standhält. „Sie versuchen, unsere Truppen aus der Richtung von Izyum zum Abzug zu bewegen, indem sie Charkiw so hart und so häufig wie möglich angreifen“, sagt sie.

Dabei sterben täglich Zivi­lis­t:in­nen. Popowa zufolge seien allein am vergangenen Dienstag vier Menschen getötet und 14 verletzt worden. Am vergangenen Samstag seien zwei Menschen getötet und 32 verletzt worden. „Ich weiß jedoch, dass eine ganze Reihe von Menschen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser gestorben sind, weil sie zu viel Blut verloren hatten oder ihre Verletzungen zu schwer waren“, sagt sie. Auch unter Kindern gebe es Opfer. Ein kleiner Junge sei auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Er sei gerade einmal sieben Monate alt gewesen.

Die Taktik der russischen Truppen sei heimtückisch, sagt sie. Auf den ersten Angriff folgt meist fünf bis zehn Minuten später ein zweiter an genau derselben Stelle. Die Russen wissen, dass sie ihre Leute nicht im Stich lassen. So sei der Rettungsdienst immer sofort da. Und dann erfolge die nächste Attacke. Doch es seien schon viele Char­ki­we­r*in­nen und andere Ukrai­ne­r*in­nen gerettet worden.

Der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der Region Charkiw, Oleg Sinegubow, geht davon aus, dass die Russen die Schlacht um Charkiw faktisch bereits verloren hätten. Er ist überzeugt davon, dass es für die russischen Truppen sehr schwierig sein werde, die Positionen der Ukraine anzugreifen, die derzeit im Norden und Nordosten des Charkiwer Zentrums Stellung bezogen haben.

Sinegubow hat unterdessen die Informationen des Verteidigungsministeriums über die Rückeroberung einiger Dörfer in der Region Charkiw bestätigt. Er betonte jedoch, dass die Befreiung und das Halten von Positionen zwei verschiedene Dinge seien. Es seien zwar Fortschritte zu verzeichnen, aber leider könne man noch nicht sagen, dass es dort sicher sei, weil die Kämpfe weitergingen.

Auch die Evakuierungen von Menschen aus den Städten Losowaja und Barwinkowe im Süden des Charkiwer Gebietes gehen weiter. Aus der Region um Losowaja wurden zwischen 50.000 und 55.000 Menschen in Sicherheit gebracht, rund 20.000 sind geblieben. Die Evakuierung erfolgt mit Zügen, Bussen und anderen Verkehrsmitteln. Zu einer konzertierten Evakuierung der Be­woh­ne­r*in­nen aus Charkiw sehen die Behörden noch keinen Anlass.

Auch Krankenhäuser werden beschossen

Die Stadt Izyum sei von der russischen Armee eingekesselt, es gebe keine Möglichkeit, Evakuierungskorridore zu organisieren oder humanitäre Hilfe zu leisten. Darüber hinaus begehe die russische Armee in Izyum ein weiteres Kriegsverbrechen – sie versuche, die lokale Bevölkerung für die russische Armee zu rekrutieren. „Es ist absurd: Der Feind schlägt den Einheimischen vor, sich den Streitkräften der Russischen Föderation anzuschließen. Das ist vor allem in Izyum der Fall. Die Menschen haben die Informationen überrascht zur Kenntnis genommen. Soweit wir wissen, hat sich aber niemand darauf eingelassen“, sagt Sinegubow.

Die russischen Truppen beschießen Charkiw aus einer Entfernung von 25 bis 40 Kilometern – auch Krankenhäuser. Das sei Terror gegen die Zivilbevölkerung. Denn die Luftverteidigungssysteme seien aufgrund der kurzen Flugzeit von Granaten nicht in der Lage, vor Angriffen von Mehrfachraketensystemen zu warnen, so Sinegubow.

Am Dienstagabend teilt Wolodimir Timoschko, Leiter der Hauptdirektion der Nationalen Polizei in der Region Charkiw, mit, dass seit dem Beginn der russischen Invasion in Charkiw mehr als 550 Zi­vi­lis­t*in­nen getötet wurden – darunter 26 Kinder.

Julia hat übrigens eine Wohnung in Poltawa gefunden – 150 Kilometer von Charkiw entfernt. Doch noch zögert sie, ob sie Charkiw vor den orthodoxen Ostern am 24. April verlassen oder lieber bis zum kommenden Montag warten soll, um das Fest in ihrer neuen Wohnung zu feiern.

Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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