Russische Luftangriffe auf die Ukraine: Mit dem Heulen der Sirene fängt es an
Die russischen Luftangriffe auf die Ukraine haben wieder zugenommen. Menschen aus der Hafenstadt Odessa berichten von Strategien gegen die Angst.

Zur Realität gehört, dass längst nicht mehr alle in den Schutzraum gehen. Trotz der Gefahr, Opfer eines nächtlichen Angriffs zu werden. „Aber das ist doch gefährlich!“, werden Sie jetzt einwenden. Ja, das ist gefährlich. Aber in mehr als drei Kriegsjahren haben die Ukrainer ihren eigenen Lebensrhythmus, ihre eigene Logik entwickelt, die man Menschen, in deren Land kein Krieg herrscht, häufig nicht so leicht erklären kann.
So kann es an einem Tag sechs, sieben Mal Luftalarm geben, jeweils zwischen zehn Minuten und zehn Stunden. Das weiß man nie vorher. Aber wenn man quasi jede Nacht ein paar Stunden im Schutzraum verbringt, dann sagt der Organismus höchstwahrscheinlich nach einer Woche: „Sollen sie doch bombardieren, ich will schlafen.“ Weil es auch einfach notwendig ist, zu arbeiten, zu essen, den Haushalt zu machen und eben zu schlafen.
Luftraumüberwachung per Social Media
Das bestätigen auch die Odessiten selber. Die 52-jährige Halyna zum Beispiel: „Ich gehe nur extrem selten in den Schutzraum, auch, weil der einfach relativ weit weg ist. Die Raketen und Drohnen sind so schnell, da macht das gar keinen Sinn mehr.“
Und auch der Grafikdesigner Denys meint: „Bevor ich in den Keller gehe, schaue ich immer zuerst auf Social Media. Dort gibt es spezielle Kanäle zur Luftraumüberwachung. Wenn es eine direkte Bedrohung gibt, wenn es so laut wird, wie es beim letzten Angriff war … Aber dann sitzt man im Keller und spürt, dass man selbst dort nicht sicher ist. Wir haben keinen richtigen Schutzraum, nur einen einfachen Keller in einem Haus aus Muschelkalk.“
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
Die Sirene klingt immer gleich, aber die Luftangriffe sind unterschiedlich. Was und woher etwas geflogen kommt, kann man aus einem der zahlreichen Telegram-Kanäle erfahren. Normalerweise steht da dann „feindliche Aufklärungsdrohne in unsere Richtung“, „MiG-31K im Luftraum“, „drohende Gefahr durch den Einsatz von Angriffsdrohnen“, „Abschuss von Kaliber-Raketen“ oder „Gefahr durch ballistische Raketen“.
Und in jüngster Zeit ist noch der Begriff „reaktive UAVs“, also „unbemannte Luftfahrzeuge“ dazugekommen: Die Russen haben eine neue Drohnenart in Betrieb genommen. Wenn man weiß, welche Art von Angriff angekündigt ist, entscheidet man für sich: Will man in den Keller, in eine Tiefgarage, im Flur der eigenen Wohnung Schutz suchen (gemäß der „2-Wände-Regel“) oder einfach im warmen Bett liegen bleiben?
Gefahr droht auch im eigenen Bett
Es gibt auch Menschen, die einen Angriff einfach verschlafen. So wie der Manager Aleksandr: „Einmal habe ich geträumt, dass über mir eine große Biene herumschwirrte und melodisch summte. Erst morgens habe ich kapiert, dass es nachts einen Drohnenangriff gegeben hatte. Aber ich war so müde, ich bin einfach nicht wirklich wach geworden.“
Tatsächlich kann einen natürlich auch im Bett eine Rakete, eine Drohne oder die Flugabwehr treffen. Ein plötzlicher Knall – eine Explosion! Das Geräusch der Drohnen ähnelt dem eines Moped. Wenn es so klingt, als ob sie direkt über dem Haus fliegen, ist es Zeit, in den Flur zu gehen. Wieder eine Explosion, noch näher! Die Fensterscheiben klirren.
Shahed-Drohnen kommen selten einzeln. Manchmal fliegen bis zu zwölf Stück innerhalb einer halben Stunde. Und das bei uns, im vergleichsweise ruhigen Odessa. In Cherson und Saporischschja kommen zum Beispiel noch Gleitbomben und Artillerie dazu. Und die sind bedeutend lauter.
Nächtliche Aktivitäten bei Luftalarm
Im Flur hat man bereits in weiser Voraussicht eine Isomatte oder eine Liege platziert. Man kann sich hinlegen, Angst haben, mit der Katze kuscheln, die Explosionen zählen und raten, wo die Raketen dieses Mal einschlagen. Man kann auch versuchen, sich auszumalen, in welchem Zustand man später unter den Trümmern gefunden wird. Oder Kontakt zu Freunden aufnehmen und sie fragen, wie es ihnen gerade geht. Sich zum Kühlschrank vorwagen, um sich dort etwas Leckeres zu essen zu holen. Oder eine angebrochene Flasche Rotwein, um ein Gläschen auf die Luftabwehr zu trinken.
Odessiten berichten auch noch von anderen nächtlichen Aktivitäten während des Luftalarms. Der Grafikdesigner Denys erzählt: „Im Keller mache ich eigentlich nichts Besonderes: herumsitzen, Angst haben, meine Tochter im Arm halten. Lesen, was wohin fliegt. Und warten, dass alles vorbeigeht.“ Und die 43-jährige Anwältin Walerija sagt: „Ich gehe manchmal mit dem Hund in den Hof und denke an die Arbeit. Manchmal mache ich sogar Sport: ich gehe in die Hocke, weil mein Adrenalinspiegel steigt.“
Panikattacken und Depressionen als Folge der Angriffe
Luftalarm bleibt nicht folgenlos. Selbst wenn es keine Angriffe gibt, gibt es psychischen Druck: Panikattacken, chronische Müdigkeit, Depressionen, Schlaflosigkeit – harmlose Dinge, die uns hier treffen, weit entfernt von der Frontlinie, wie Grafikdesigner Denys bestätigt: „Ja, die Angst hat zugenommen, die Panikattacken sind zurück seit letztem Monat. Darum bemühe ich mich, alltägliche Dinge zu tun, gewöhnliche, ungefährliche. Ich arbeite, meide möglichst die Nachrichten. Ich habe mir ein leichtes Antidepressivum besorgt, es hilft ein bisschen. Manchmal trinke ich Alkohol – sehr viel mehr als früher.“
Über Alkohol zur Angstbewältigung gibt es aber auch ganz andere Meinungen, wie die HR-Spezialistin Halyna erklärt: „Alkohol darf man nicht trinken, denn wenn man durch einen Raketenangriff verletzt und dann gerettet wird, darf kein Alkohol im Blut sein: das verträgt sich nicht mit einigen Medikamenten. Ich lenke mich mit Theaterbesuchen ab, gehe in Ausstellungen und mache auch gerne Ausflüge in die Umgebung von Odessa. Ich suche neue Eindrücke.“
Nach solchen Angriffen muss man die Kraft finden, sich hinzulegen und zu schlafen, ganz gleich, was man am nächsten Morgen über Opfer und Zerstörungen erfährt. Denn am nächsten Morgen beginnt auch ein neuer Tag. Vielleicht kommt die Sonne heraus, es gibt gutes Wetter. Man kann ans Meer gehen, frische Luft atmen, sich nach der schlaflosen Nacht mit einem Kaffee aufmuntern, sich die zivilen Schiffe am Horizont ansehen und sich davon überzeugen, dass alles Gute noch vor uns liegt.“
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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