Russische Kuratoren verurteilt: Traumatisierende Kunst
Zwei Kuratoren zeigten eine Ausstellung mit indizierten Werken. Orthodoxe Fundamentalisten sahen die russische Moral gefährdet und zogen vor Gericht.
MOSKAU taz | Sie werden mit dem Urteil nicht zufrieden sein, die Frauen mit Kopftuch, die monoton Psalmen vor sich hin murmelten. Die älteren Damen auf den Holzbänken, die sich an kleine Pappikonen klammerten. Ergriff die Verteidigung das Wort, pressten sie das Abbild Gottes an die Brust. Als Schild gegen die Wortgewalt des Satans. Kamen Anklage und Zeugen zu Wort, streckten sie ekstatisch das Heiligenbild gen Himmel. Die Szene hätte in einer psychiatrischen Anstalt vor 100 Jahren in einem abgelegenen Winkel Europas spielen können. Doch Ort des Geschehens war das Taganskij-Bezirksgericht in Moskau, das am Dienstag den Kurator Andrei Jerofejew zu 150.000 Rubel (3.800 Euro) und den ehemaligen Direktor des Sacharow-Zentrums, Juri Samodurow, zu 200.000 Rubel (5.100 Euro) Geldstrafe wegen antireligiöser Hetze verurteilte. Zur Verhandlung hatte deren Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" gestanden, die 2007 im Sacharow-Museum stattfand. Jerofejew wählte dafür 24 Werke aus, die der Chef der Tretjakow-Galerie auf den Index gesetzt hatte.
Wer die Kunstwerke in Augenschein nehmen wollte, musste im Sacharow-Museum eine Leiter erklimmen und durch das Loch einer künstlichen Stellwand peepen, die den Betrachter vor der provokativen Kunst notdürftig schützte.
Besonderen Anstoß rief eine mit Kaviar gefüllte Silhouette einer Muttergottes-Ikone von Alexander Kossolapow hervor. Einen Heiland mit Comic-Konterfei und Christus am Kreuz mit Lenin-Orden anstelle des Hauptes empfanden Gläubige ebenso verunglimpfend, wie sich Patrioten von der Collage einer Rektaldefloration eines Armeerekruten durch einen Vorgesetzten erregen ließen.
Die Staatsanwaltschaft sah den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, auf die eine Höchststrafe von fünf Jahren Lagerhaft steht. Die juristische Initiative ergriffen jedoch orthodoxe Fundamentalisten der "Volksverteidigung", einer Gruppe, die sich dem Kampf gegen antirussische Unmoral verschrieben hat und deren Sympathisantenfeld weit in rechtsradikale und antisemitische Kreise hineinreicht. Dass auch die Staatsanwaltschaft den Angeklagten "kriminelle Übereinkunft" mit der Absicht unterstellte, orthodoxe Gläubige öffentlich herabzuwürdigen, offenbart, wie nachhaltig geschlossene Weltbilder in der Gesellschaft doch noch wirken.
Der Staat schlug sich ebenfalls auf die Seite der Kläger, indem er ihnen bescheinigte, infolge der Kunstbetrachtung "psycho-traumatisierende" Auswirkungen davongetragen zu haben. Mehr als 120 traumatisierte Zeugen hörte das Gericht. Nur eine Handvoll hatte die Ausstellung besucht, die meisten machten sich mit den Objekten erst in der Anklageschrift vertraut. Die inquisitorische Stoßrichtung zeigte sich darin, dass das Gericht sich weigerte, zur Kenntnis zu nehmen, dass die meisten Werke aus der Sowjetzeit stammten und die Verhimmelung atheistischer Parteiikonen ironisierten. Kurzum: Sie waren ein Plädoyer für Freiheit, das auch die der Religionsausübung enthielt.
Verkehrung und Verfremdung ursprünglich europäischer Werte ist ein Spezifikum der russischen Kultur. Eigentlich sollte der Paragraf 282 (Volksverhetzung) die jüdische Minderheit schützen. Stattdessen verwünschen orthodoxe Gläubige Angeklagte und Andersdenkende im Gerichtssaal mit antijüdischen Flüchen und schreckten auch vor Todesdrohungen nicht zurück.
Die russisch-orthodoxe Kirche, die sich zur staatlich-moralischen Erziehungsinstanz aufschwingt, trat zwar nicht als Kläger auf. Aus ihrer Sympathie für die Anklage machte sie gleichwohl kein Hehl. Auch Russlands Kulturminister Alexander Awdejew meldete sich erst kurz vor Ende des Verfahrens zu Wort. Gerichte seien nicht der Ort, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, meinte er vorsichtig. Dem Kreml ist nicht an einer neuen totalitären Ideologie gelegen. Es ist schon ein Erfolg, wenn die Mehrheit sich eingeschüchtert, atomisiert und zu Passivität verdammt fühlt.
"Der Prozess hat seine Aufgabe schon erfüllt", sagt entsprechend Andrei Jerofejew, der wie Juri Samodurow in Berufung gehen will. In der Kunstszene gehe die Angst um. Einige Künstler holten schon das Placet der Kirche ein, bevor sie etwas ausstellten. Andere allerdings wie die Performance-Gruppe "Woina" lassen sich nicht einschüchtern. Aus Protest gegen den Prozess schütteten sie während der Urteilsverkündung 3.000 Kakerlaken im Gerichtsgebäude aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was