Rumänien vor der Präsidentschaftswahl: Das gespaltene Land
Andra G. ist 29, hat in fünf Ländern gelebt und hasst die korrupte Regierung ihres Landes. Gheorghe Sinca ist 65 und hat diese immer unterstützt.
Langsam schiebt sich die Gruppe vorwärts über den warmen Asphalt, vorbei an Häusern mit meterhoher Leuchtreklame von Coca-Cola und Frutti Fresh. Kurz spaltet der Protest den Platz der Einheit: rechts junge Menschen, links hupende Autos, die nicht weiterkommen.
Ginge es nach Andra G., gäbe es hier weniger Autos. Ihr ist Klimaschutz wichtig. Von ihrer Regierung fordert sie, dass sie mehr Radwege baut und endlich die illegale Abholzung stoppt. In Deutschland würde sie vielleicht die Grünen wählen. Am nächsten Sonntag aber wird sie ihr Kreuz bei Klaus Iohannis machen. Sie will, dass der 60-Jährige Präsident Rumäniens bleibt: „Iohannis hat bewiesen, dass er in guter Absicht handelt.“ Seine Wahlwerbung sagt viel über die politischen Konflikte: Auf Plakaten wirbt Iohannis für ein „normales Rumänien“.
Deutsche Medien nennen Iohannis gern einen Saubermann – tatsächlich sieht er auf Facebook ein bisschen aus wie Meister Proper im Anzug. Der amtierende Präsident steht der nationalliberalen Partei (PNL) nahe, er selbst gilt als progressiv. Im letzten Jahr stellte sich Iohannis gegen ein Referendum, das die Ehe als exklusive Verbindung von Mann und Frau in der Verfassung festschreiben wollte.
Genug Erfahrung mit Demonstrationen
Doch das ist nur ein Grund, warum G. ihn wählen will. Vor allem ist Iohannis einer der stärksten Gegner der Sozialdemokratischen Partei (PSD). Seit 2017 regiert diese Partei, von der Kritiker sagen, sie sei nur auf dem Papier sozialdemokratisch. Andra G. meint: „Die Jahre unter der PSD waren die Hölle. Aber die Leute wachen langsam auf.“
Gut eine Stunde benötigt die Demonstration für die kurze Strecke bis zum Umweltministerium, das wie ein Zwerg gegenüber dem Parlament steht, einem Koloss aus Tausenden Tonnen Stein. Die Stimmung ist ausgelassen, G. wirkt eher gesetzt. Sie hat viele Demos hinter sich, die meisten davon gingen gegen die PSD.
Andra Garoi, Studentin in Bukarest
Der Partei weht der Geruch von Korruption voraus. Kaum im Amt, verabschiedete die PSD-Regierung im Januar 2017 über Nacht ein Justizpaket: Unter anderem sollten Ermittlungen wegen Korruption künftig „wegen Nichtigkeit“ eingestellt werden und damit straffrei bleiben, wenn es um weniger als 44.000 Euro ging. Bei Minusgraden zog auch Andra G. dagegen auf die Straße. Erst als eine halbe Million Menschen demonstrierten, nahm die PSD das Dekret zurück. Seither warnen Kritiker vor Angriffen auf den Rechtsstaat. Im Juni 2018 brachte die PSD eine zweite Justizreform durch, die ihrem Ministerium mehr Macht gab. Das kam vielen aus Ungarn oder Polen bekannt vor.
Widerständiger Präsident contra wirrer Gegenkandidatin
Präsident Iohannis stellte sich damals gegen die PSD. Die Justizgesetze gab er ohne seine Unterschrift an das Parlament zurück, dann ließ er die Bürger in einem Referendum dagegen abstimmen. Verhindern konnte er das Vorhaben aber nicht. Wirkliche Macht besitzt der Präsident vor allem in der Außenpolitik. Trotzdem zählt seine Meinung viel. Der Präsident gilt als Hüter der Verfassung.
Zu den Präsidentschaftswahlen wird auch Viorica Dăncilă antreten, Iohannis’ größte Kontrahentin. Als EU-Abgeordnete fiel sie vor allem durch Abwesenheit auf, später durch Patzer, sie verwechselte Hauptstädte oder sprach von der Abschaffung der Demokratie statt der Bürokratie. Als Andra G. im September für eine bessere Klimapolitik auf die Straße geht, ist die 55-jährige Dăncilă – noch – Rumäniens Premierministerin.
G.'s Proteste fallen an diesem Tag zwischen Besuchen bei der Familie und Visiten im Krankenhaus. Im letzten Jahr erhielt ihre Mutter eine Krebsdiagnose. G. kündigte ihren Job in Norwegen. Nun wird die Mutter in einer Privatklinik behandelt. Häufig übernimmt die Krankenkasse nur 10 Prozent der anfallenden Kosten. „Uns war das lieber, als im öffentlichen Krankenhaus Schmiergeld zu zahlen“, sagt Andra G.
Die Korruption frisst sich durch Rumänien
Der Kampf gegen die Korruption ist für sie das entscheidende Thema bei der Wahl. Wie ein Tinnitus zieht sie sich durch ihr Leben: Andra G. ist 10, als Adrian Năstase von der PSD Premier wird. 2012 erhält er wegen illegaler Parteienfinanzierung eine Gefängnisstrafe. Sie ist 25, als Victor Ponta regiert. Während seiner Amtszeit sterben 64 Menschen nach einem Brand in einem Bukarester Club. 13 von ihnen erliegen nicht dem Feuer, sondern Krankenhauskeimen: Desinfektionsmittel waren von der Herstellerfirma bis zur Wirkungslosigkeit verdünnt worden. 2017 kommt die PSD wieder an die Macht. In ihren ersten Wochen verabschieden sie das umstrittene Justizpaket.
G. erklärt das Problem so: „Sagen wir, auf dem Weg zur Arbeit kommst du an einem großen Berg von Geld vorbei. Wäre der schon immer da gewesen, würdest du wahrscheinlich nichts nehmen. Aber Rumänien hat in den letzten dreißig Jahren diese Armut erlebt. Also greifst du zu. Morgen ist es vielleicht weg.“
Vor dem Umweltministerium spricht jetzt eine Frau mit lila Haaren ins Megafon. Einige Anzugträger kommen aus dem Gebäude heraus. Für ihre Regierung läuft es schlecht. Kommentarlos laufen sie in Richtung Parlament.
Als der Diktator Nicolae Ceaușescu das Gebäude in den 1980ern erbauen ließ, glaubte er nicht, dass die Stimme der Bürger bald viel zählen könnte. Dann kam 1989 die Revolution. Die Ceaușescus wurden vor laufender Kamera erschossen.
Dreißig Jahre später ist Rumänien bekannt für Korruption, aber auch für friedliche Proteste. 2013 sieht Andra G., wie Proteste den Bau der umstrittenen Goldmine in Rosia Montana stoppen. 2015, nach dem Clubbrand, protestiert sie mit. Am Ende muss Premier Ponta von der PSD zurücktreten. Im August 2018 folgten über 100.000 Menschen einem Demonstrationsaufruf der Diaspora. Die Polizei richtete Tränengas und Wasserwerfern gegen die Menge. Seitdem geht es für die PSD bergab.
Im letzten Jahr verlor die Partei 10 Prozent, eine Europawahl und ihren Parteichef: Seit Mai 2019 sitzt Liviu Dragnea wegen Wahlmanipulation in Haft. Rovana Plumb, PSD-Kandidatin für die EU-Kommission, fiel durch. Anfang Oktober entzog das Parlament Premierministerin Viorica Dăncilă sein Vertrauen. Noch regiert sie kommissarisch. Aber an diesem Montag entscheidet das Parlament in Bukarest über eine neue Regierung. Nun soll die PNL die Macht erhalten, die Partei, der man auch Iohannis zurechnet. Für viele Rumänen sind die Präsidentschaftswahlen am nächsten Sonntag ein Gradmesser: Wo steht das Land 30 Jahre nach der Revolution?
Warum Sinca die Regierenden unterstützt hat
Eine halbe Stunde vom Umweltministerium entfernt nimmt Gheorghe Sinca in einer leeren Bar Platz. Gleich daneben trinken Menschen ihr Feierabendbier. Draußen staut sich der Verkehr. Sinca, schlichte Hose und weißes Polohemd, bestellt ein Frappé. Es wirkt etwas flippig neben der Brille, die am Band um seinen Hals hängt. Der 65-jährige Manager spricht leise, aber deutlich. Über die Proteste von 2017 urteilt er: „Später haben viele erkannt, dass Teile der Justizreform richtig waren.“ Er kritisiert, dass die Justiz auch gegen Victor Ponta wegen Korruption ermittelt habe. „Am Ende waren die Anschuldigungen haltlos“, sagt Sinca.
Seit den ersten freien Wahlen 1990 hat Sinca die PSD gewählt. Während Andra G. davon überzeugt ist, dass die Korruption das Land bremst, glaubt Sinca, der Kampf dagegen sei das eigentliche Übel. Jeder warte nur auf Anweisungen von oben. Wer investieren wolle und damit Arbeitsplätze schaffen möchte, müsse stets die Antikorruptionsbehörde fürchten. Sinca befürwortet mehr Investitionen, bessere Straßen und schnellere Züge, alles, was der Wirtschaft hilft.
Zwar ist der rumänische Durchschnittslohn auf rund 640 Euro netto im Monat gestiegen. Noch niedriger sind die Gehälter innerhalb der EU aber nur in Bulgarien. Gheorghe Sinca meint deshalb: „Die Politik muss mehr für die Armen tun.“ Die PSD hat in den letzten zwei Jahren die Gehälter für Ärzte erhöht, den Mindestlohn und die Renten, Studenten dürfen umsonst Zug fahren.
„All diese Blöcke hier“, sagt Gheorghe Sinca und zeigt aus dem Fenster auf mehrgeschossige Gebäude, „gehörten früher dem Staat.“ Nach der Revolution überließ die PSD sie ihren Mietern zum Vorzugspreis. Bis heute lebt Sinca nur fünf Minuten vom Café entfernt in einer Wohnung, die er 1991 gekauft hat. Den Preis von umgerechnet 3.200 US-Dollar zahlte er in Raten ab. Dank der hohen Inflation wurden diese immer kleiner.
Für Sinca ist die PSD die Partei, die seit dem Systemwechsel für soziale Gerechtigkeit kämpft. Obwohl die Planwirtschaft nach der Wende kollabierte, ging es den Menschen schnell besser. Anders als in Deutschland konnten viele Arbeiter ihre Firmen selbst kaufen, auch Sincas Betrieb gehört bis heute größtenteils der Belegschaft. Das sind die Vorteile, die für Sinca zählen.
1996 kam die Schocktherapie. Die Opposition übernahm die Regierung, sie privatisierte und schloss Firmen, zugleich rutschte die Wirtschaft ab. Später dann der zweite große Einbruch: Nach der Finanzkrise musste die Regierung die jahrelang gestiegenen Löhne im öffentlichen Dienst auf einen Schlag um 25 Prozent kürzen. Die PSD war da aber schon wieder in der Opposition.
Junge Selbstverwirklicherin, alter Plan-Manager
Am Tag nach dem Klimastreik steht Andra G. in einer roten Steppjacke auf rund 2.500 Meter Höhe. Neben ihr fällt der Berg in die Tiefe, am Horizont verschwinden Gipfel im Dunst. Die Sonne scheint auf die grünen Flanken des Bucegi-Gebirges. Immer wieder läuft G. ihren Freunden voraus und schießt Fotos. Wandern ist eins ihrer liebsten Hobbys. „Jeder sollte einfach ein bisschen Leben haben.“
Andra G. ist 1990 geboren. Über ihre Kindheit sagt sie, dass sie noch irgendwie kommunistisch gewesen sei. 2007 ist sie eine der ersten Rumäninnen, der nach der Schule die Europäische Union weit offensteht. Trotzdem beginnt sie ihr Studium der Betriebswirtschaft in der Hauptstadt Bukarest, sie hofft auf einen sicheren Job und will auch den Eltern gefallen. Die arbeiten hart, um ihre Kinder zu versorgen. Als Seemann ist ihr Vater meist ein halbes Jahr lang gar nicht zu Hause. G. sagt: „Meine Eltern hatten niemals Zeit für sich selbst.“
Später zieht Andra G. nach Porto, dann nach Kopenhagen und Oslo. Für ihr Studium jobbt sie in einer dänischen Pizzeria, arbeitet oder lernt eigentlich fast immer. Dafür spart sie: Während in Rumänien am Ende des Monats 90 Euro übrig bleiben, sind es in Dänemark fast 800, in Oslo 1.500. Wegen dieser Gehälter gehen viele Rumänen ins Ausland. Fünf Jahre lang war G. eine von 5,7 Millionen Diaspora-Rumänen.
Zwanzig Jahre nach der immer noch kommunistisch geprägten Kindheit zählt G. zur Generation Y, den Selbstverwirklichern mit moralischem Anspruch. Mit ihren Umzügen kommen neue Berufe: Sie studiert Tourismus, verkauft vegane Kuchen statt Pizza. Zurück in Bukarest findet sie endlich das Richtige: Seit diesem Oktober studiert sie wieder: Big Data und Statistik. Ihr Partner lebt in der Schweiz. Um das Klima zu schonen, treffen sich die beiden erst wieder an Weihnachten. G. findet: „Meine Eltern haben mir immer vermittelt: Hab gute Noten, dann findest du einen guten Job.“ Aber so leicht sei es heute nicht mehr.
Bei Gheorghe Sinca in Bukarest füllt sich das Café. Draußen ist es dunkel geworden und der Verkehr leiser. Wie G. hat auch Sinca Management studiert – aber zu sozialistischen Zeiten. Seine Karriere beginnt mit Planzahlen statt Selbstverwirklichung. In den 1980ern schickt ihn die Regierung „in die rumänische Provinz“, wie er sagt. Sein Leben lang arbeitet er in Rumänien, vierzig Jahre bei der Firma Hidroconstructia. Bis zur Rente ist auch seine Frau dort tätig, seit 1982 sind sie verheiratet.
Einst baute Hidroconstructia die größten Dämme Rumäniens. Heute laufen die Geschäfte eher in Belgien oder dem Irak. Sinca wünscht sich, dass wieder mehr in Rumänien produziert wird, auch damit seine zwei Söhne nicht ins Ausland gehen müssen. Statt mehr Radwege bevorzugt er den Bau eines Staudamms am Fluss Jiu. Doch der liegt wegen Umweltschutzauflagen auf Eis.
Wenn Sinca von früher erzählt, klingt es, als wollte er sich selbst überzeugen. Er sagt: „Der Kapitalismus ist dem Sozialismus überlegen, zum Beweis ist der Sozialismus ja von der Karte verschwunden.“ Und: Es gebe nur weniges am Systemwechsel, das er heute bedaure. „In den letzten dreißig Jahren hat sich vieles verbessert.“
Zufrieden in die Rente
Sinca wirkt zufrieden. Im Dezember geht er in Rente. Dann wird er jeden Monat umgerechnet 770 Euro bekommen und viel Zeit für sein Enkelkind haben. Er freut sich darauf. „Mit der Familie ist immer was los.“ Wenn es Trubel gibt, dann oft auch wegen Politik. Mit seinen Söhnen teilt er politisch wenig. Sein Sohn sei beim Thema Korruption gerade zu besessen.
Konflikte wie bei den Sincas ziehen sich durch viele rumänische Familien: Auch Andra G. hat sich schon mit ihren Eltern gestritten, weil diese die PSD wählen wollten. Bei den Europawahlen im Mai hatten die Sozialdemokraten mit Abstand die ältesten Wähler, 42 Prozent waren Senioren, also über 65 Jahre alt.
Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl aber könnte es anders werden. Zum ersten Mal will auch Gheorghe Sinca nicht mehr die PSD wählen. Er zweifelt an seiner politischen Heimat: „Parteichef Dragnea hat sich aller Gegner entledigt und in der Partei ein System etabliert, in dem alle seine Entscheidungen durchkamen.“ Weil Dragnea wegen seiner Vorstrafe aber nicht selbst Premier werden konnte, setzte er seit 2017 loyale Parteifreunde ein. Mit Dăncilă verschliss die PSD ihren dritten Premier in zweieinhalb Jahren. Sinca findet, man kann ihr nicht trauen: „Jetzt, da Dragnea im Gefängnis sitzt, tut sie einfach so, als würde sie ihn nicht kennen.“
Wie Sinca könnten sich viele ehemalige PSD-Wähler entscheiden. In Umfragen liegt die PSD-Politikerin Viorica Dăncilă bei nur 12,5 Prozent. Auf ihrer Facebook-Seite sieht man sie durch das Land radeln, bei alten Damen Honig kaufen, Veteranen die Hand schütteln. Ihr Slogan: „Wir kämpfen für jeden Rumänen“. Offenbar glauben das nur noch wenige.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen