Rückkehr nach Nordgaza: „Wir sind auf dem Heimweg“
Nach fünfzehn Monaten Krieg dürfen aus Nordgaza Geflohene zurückkehren. Zuerst müssen sie einen Checkpoint passieren – und dann weiter ins Ungewisse.
Dort im Norden, in ihrer Heimat Gaza-Stadt, warte einer ihrer Söhne auf die Rückkehr seiner Mutter, erzählt Nasrallah. Wann genau sie ihn wiedersehen wird, weiß Nasrallah nicht. Denn erst muss die Familie den Netzarim-Korridor passieren – und den darin gelegenen Checkpoint Salah ad-Din. An diesem Tag das Nadelöhr zwischen Nord- und Südgaza.
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Im Waffenstillstandsabkommen steht: Ab dem siebten Tag der Gültigkeit des Abkommens sollten die Binnengeflüchteten aus dem Süden in den Norden des Gazastreifens zurückkehren dürfen. Das war lange kaum möglich. Denn das israelische Militär etablierte im Verlauf des Krieges den Netzarim-Korridor, benannt nach einer 2005 aufgelösten israelischen Siedlung im Gazastreifen.
Zwei Wege führen nach Nordgaza, an einem wird kontrolliert
Die rund vier Kilometer breite Pufferzone unterteilte seit November 2023 Gaza in einen Nord- und einen Südteil. In seiner Mitte planierte Israel eine militärisch genutzte Straße, die vom Meer bis zum Grenzübergang 96 verläuft. Dieser Übergang wird vom Militär genutzt und liegt auf israelischer Seite nahe dem am 7. Oktober 2023 von palästinensischen Militanten überfallenen Kibbutz Be’eri. Da das israelische Militär immer wieder zur Evakuierung aus Nordgaza aufforderte, konnte der Netzarim-Korridor von Nord nach Süd – zumeist nach Kontrolle durch israelische Truppen – oft passiert werden. In die andere Richtung hingegen kaum.
Bis jetzt. Eigentlich hätte die Rückkehr der Menschen aus Süd- nach Nordgaza bereits am Samstag möglich sein sollen. Weil die Hamas entgegen der Abmachung erst vier israelische Soldatinnen statt zwei noch gefangener Zivilistinnen freiließ und die Liste der Geiseln sich verspätete, verzögerte sich auch die Öffnung des Korridors. Am Montag wurde bekannt, dass 8 der 33 Geiseln, die in der ersten Phase der Vereinbarung freikommen sollen, nicht mehr am Leben sind.
Die Rückkehr nach Nordgaza ist nun über zwei Punkte möglich: über den Checkpoint al-Rasheed nahe der Küste, der nur für Fußgänger geöffnet ist. Die Rückkehrenden sollen dort laut Abkommen nicht kontrolliert werden. Ein Augenzeugenbericht bestätigt das. Am zweiten Übergang, dem Salah-ad-Din-Checkpoint, ist der Übertritt auch mit Fahrzeugen erlaubt – oder eben Eselskarren, wie in Ibtissam Nasrallahs Fall. Hier kontrollieren, wie im Abkommen vereinbart, private Sicherheitsunternehmen die Rückkehrenden. Laut dem US-Portal Axios sind die US-Unternehmen Safe Reach Solutions und UG Solutions beteiligt.
Außerdem sind Sicherheitskräfte aus Ägypten involviert: Angehörige des Qatari Egyptian Council übernehmen nach Berichten von Augenzeugen den Kontakt: In beigen Cargohosen und schwarzen Jacken laufen sie durch die Menge an Wartenden, dirigieren sie in der Schlange. In Kohorten von vier, fünf Fahrzeugen müssen die Zurückkehrenden dann einen Sicherheitsscanner passieren. Ähnlich den Detektoren an Flughäfen – nur so groß, dass Autos darunter hindurchpassen; ein metallenes Rechteck, das wie ein Torbogen über der Straße steht. Uniformierte und vermummte Kräfte überwachen die Szenerie.
Geröll und Trümmer am Straßenrand
Der Prozess am Checkpoint dauert, die Schlange zieht sich kilometerlang hin. An dem roten Geländer, das die beiden Richtungen der Straße voneinander trennt, lehnen Menschen und warten. Am Straßenrand türmen sich Geröll und Trümmer, die Strecke entspricht teils eher einer Sandpiste als einer Straße. Zwischen manchen Strommasten, die sie säumen, sind die Leitungen durchtrennt. Immerhin scheint die warme Wintersonne.
Ibtissam Nasrallah
Die BBC schreibt: Es könnte Tage dauern, bis alle Wartenden den Checkpoint passiert haben. Und laut der Nachrichtenagentur AFP sollen am Montagnachmittag, seit der Öffnung der Übergänge am Morgen, bereits 200.000 Menschen zu Fuß nach Nordgaza zurückgekehrt sein.
In welche Situation sie zurückkehren wird, weiß Ibtissam Nasrallah kaum. Nur was sie am Körper tragen und was der schmale Esel der Familie auf dem Karren zieht – Decken, Kleidung, Kanister –, ist ihnen sicher. Der Norden des Gazastreifens ist laut Medienberichten die Gegend, die am meisten zerstört ist.
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„Ohne Träume, ohne Hoffnung“
Dass sein Zuhause nicht mehr steht, weiß wiederum Anas Badr. Mit seiner Familie sitzt er in einem voll bepackten blauen Kleinwagen, auf seinem Schoß der kleine Sohn Muhammad. Der mampft einen Keks und sieht recht zufrieden aus. Auch für ihn geht es heim: Ins Camp Dschabalia, Nordgaza. Das wurde 1948 für vertriebene und geflohene Palästinenser aus dem heutigen Staatsgebiet Israels ausgewiesen und existiert – vor dem Krieg als Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern – bis heute. Dann kam der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, dann der Krieg. Beinahe vollkommen zerstört soll das Camp sein, berichten verschiedene Medien.
Anas Badr sagt: „Ich kehre nach Dschabalia zurück, ohne Träume, ohne Hoffnung und vor dem Nichts stehend.“ Auf dem Dach des Wagens sind mit Seilen unter anderem zwei dünne Matratzen befestigt, ein Teppich, eine Plastikschüssel. Er sagt: „Erst stellen wir ein Zelt auf, und dann bauen wir unser Haus wieder neu“. Ibtissam Nasrallah erklärt: „Wir müssen über den Schmerz hinauswachsen. Nur so können wir uns ein neues Leben aufbauen“. Dann rückt die Familie in der Schlange vor.
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