Ruanda-Völkermordprozess in Frankfurt: "Das ist ein Tutsi, ja"
Wie spricht man vor einem deutschen Gericht über den Völkermord in Ruanda? Ein Besuch beim Prozess gegen den Exbürgermeister Onesphore Rwabukombe.
FRANKFURT/MAIN taz | Paul lebt in Frankfurt. Der Ruander kam 1974 als Student nach Deutschland, er wurde Psychologe, ist inzwischen pensioniert. Seit dem 18. Januar geht er regelmäßig als Zuschauer ins Oberlandesgericht. Dort muss sich der ehemalige Bürgermeister Onesphore Rwabukombe wegen Mitverantwortung für drei Massaker mit 3.730 Toten in Ruanda während des Völkermordes 1994 verantworten. Paul kommt aus der Region, wo diese Massaker stattfanden. Er macht sich viele Notizen und viele Gedanken.
Plötzlich fordert der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel den Ruander in scharfem Ton auf, das Mitschreiben zu unterlassen. Die Verteidigerin Natalie von Wistinghausen will wissen, ob die ruandische Botschaft den Zuschauer geschickt hat. Der Richter fragt: Hat Sie die ruandische Botschaft geschickt?
Nein, antwortet Paul verblüfft, und klappt seinen Notizblock zu.
Gerade hat der deutsche Sachverständige Gerd Hankel dem Gericht die Massaker in Ruanda 1994 geschildert. An einer Stelle, sagt er, spannten die Mordmilizen ein Seil über die Straße. Wer unten durchpasste, war klein, also Hutu, durfte also leben. Wer an das Seil stieß, war groß, also Tutsi, musste also sterben. "Kein Tutsi sollte Ruanda lebend verlassen", sagt Hankel.
Der große, stattliche Paul wäre 1994 an das Seil gestoßen. Es gibt noch andere Ruander im Publikumsraum. Sie sind kleiner. Sie schreiben weiter.
Es ist möglich, mehr Sensibilität walten zu lassen beim ersten Prozess in Deutschland gegen einen Ruander wegen des Völkermordes an über 800.000 Menschen im Jahr 1994. Dass ein flüchtiger Bürgermeister aus Ruanda erst in Deutschland politisches Asyl erhält und dann in Deutschland wegen Völkermord vor Gericht gestellt wird, lässt erkennen, dass deutsche Behörden offensichtlich nicht immer richtige Entscheidungen treffen.
Der 5. Strafsenat des OLG Frankfurt müsste also besonders sensibel sein. Stattdessen ist er besonders vorsichtig.
Dabei geht es noch gar nicht um die Tatvorwürfe. Es geht um eine fremde Welt. "Ruanda ist ein hochgelegenes Land", doziert der Sachverständige Gerd Hankel, der dem Gericht Land und Leute erklärt. Der Gerichtssaal wird zum Seminarraum: Fläche und Bevölkerung, Politik und Geschichte, Hutu und Tutsi. Ein Foto aus der deutschen Kolonialzeit zeigt den damaligen König Musinga, vornehm und abweisend.
"Das war ein Tutsi?", fragt der Richter. "Das ist ein Tutsi, ja", sagt Hankel. Dann kommen Bauern, die auf dem Boden sitzen. "Das hier sind Hutu", sagt Hankel.
Rwabukombe ähnelt dem König mehr als den Bauern. Er ist groß, er hat das, was Rassisten eine Tutsi-Nase nennen. Aber er ist Hutu. Er war Bürgermeister der Gemeinde Muvumba während des Genozids. Von 930.000 Tutsi in Ruanda damals wurden drei Viertel getötet, sagt Hankel.
Den Bürgermeistern kam "eine besondere Stellung bei der Vorbereitung und Durchführung von Massakern" zu, erklärt Hankel. Ernannt auf Vorschlag des Innenministers, agierten sie als Vertreter des Präsidenten. Sie waren Vorgesetzte der lokalen Polizei, "mit der Autorität ihres Amtes forderten sie die Bevölkerung zur Mitarbeit auf". Manche hängten Namenslisten und Zeitpläne für Massaker öffentlich aus. Manche forderten Tutsi auf, sich an Sammelstellen einzufinden, wo man sie dann ermordete.
Unterstanden die Hutu-Milizen, die die Drecksarbeit machten, der Befehlsgewalt der Bürgermeister? Das ist eine Schlüsselfrage dieses Verfahrens. Der Gutachter: "Das ist möglich. Es ist aber auch der gegenteilige Fall möglich." Der Richter: "Es hängt also von der persönlichen Autorität des Bürgermeisters ab."
Der Angeklagte sagt nichts.
Hankel betreute die Wehrmachtsaussstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die 1995 die Rolle der deutschen Wehrmacht beim Holocaust erstmals einer breiten Öffentlichkeit nahebrachte. Anders als damals oft behauptet, erklärt er, gab es keinen einzigen Fall, in dem Befehlsverweigerung beim Massenmorden mit Erschießen geahndet wurde.
Auch in Ruanda: "Es gab die Möglichkeit für einen Bürgermeister, zu sagen: Ich mache nicht mit. Ich trete zurück." Rwabukombe trat nicht zurück.
Vom 15. bis 17. April 1994, erzählt Hankel, wurden in und vor der Kirche des Ortes Nyarubuye 26.000 Tutsi getötet. Autos eines anderen Bürgermeisters transportierten die Milizionäre und ihre Waffen. Das Töten dauerte mehrere Tage. Anschließend wurden die Leichenberge mit scharfem Pfeffer bestreut. Falls noch jemand hustete, konnte man das Versäumte nachholen. Rwabukombe sei bei dieser Pfefferaktion dabeigewesen.
Der Angeklagte schweigt.
"Wir haben ein großes Aufklärungsbedürfnis", sagt Richter Sagebiel. "Wir haben für diesen Prozess sowieso alle Zeit der Welt."
Man könnte ihn beschleunigen. Es gibt Mittäter und Überlebende. Deutsche Ermittler haben viele von ihnen vor Ort befragt. Ab Mai sind sie in Frankfurt geladen, als Zeugen der Anklage, darunter auch Häftlinge aus Ruanda. Dem Vernehmen nach aber weigern sich die deutschen Behörden, ihnen Visa auszustellen: Sie könnten ja in Deutschland Asyl beantragen.
So wie der Angeklagte also, als er 2002 nach Deutschland kam. Deutschland wird in diesem Prozess von seiner eigenen Ruanda-Vergangenheit eingeholt.
Die Strategie der Verteidigung besteht darin, Zweifel zu säen. Weil Ruanda heute eine Diktatur sei, könne man dort nicht ermitteln, und alle Zeugen aus Ruanda würden vom Regime zu Falschaussagen gezwungen. So argumentiert ein von der Verteidigung vorgeschlagener zweiter Sachverständiger, Helmut Strizek. Sein Gutachten behauptet außerdem, es habe gar keinen geplanten Völkermord gegeben, nur "provozierte Racheakte" der Hutu an Tutsi.
Das Gericht lehnt Strizek wegen Befangenheit ab - er ist mit dem Angeklagten befreundet und verschwieg dies. Am nächsten Verhandlungstag allerdings trägt Richter Sagebiel Strizeks Argumente selbst vor, als These. "Der Senat kann davor die Augen nicht verschließen", meint der Richter. Christian Ritscher von der Generalbundesanwaltschaft ist entsetzt. "Das kennt man aus der deutschen Geschichte auch: Täter zu Opfern machen!", sagt er. Und man könne keine Würdigung von Zeugen vornehmen, die man noch gar nicht gehört habe. Es ist derselbe Tag, an dem dem ruandischen Tutsi Paul das Mitschreiben verboten wird.
Hätten die Ruander doch 1994 besser mitgeschrieben. "Das Problem ist", sagt Hankel, "dass man anders als bei unserem Völkermord in Ruanda nicht so viele überprüfbare Quellen hat."
Wieder einen Tag später, inzwischen über Pauls Identität aufgeklärt, entschuldigt sich der Richter - in der Hauptverhandlung. Nicht viele Richter geben ihre Fehler zu. Es dürfte für solchen Großmut noch mehr Gelegenheiten geben.
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