Rotwild-Jagd in Deutschland: Ins Licht gelockt

Gefährdet ist der Rothirsch nicht. Aber wäre ein anderer Umgang mit den Tieren nicht artgerechter und ökologischer? Ein Besuch.

Ein Rothirsch steht am Waldrand und röhrt

Die Tiere leben meist sehr versteckt – wegen des Menschen Foto: imago

Es ist noch dunkel, als die Tiere in Bewegung kommen. Seit Stunden füllen ihre heiseren, tiefen Rufe die kühle Luft. So laut, dass man sich auf dem Weg übers Gras ständig umdreht, ob da nicht ein Hirsch direkt hinter einem steht. Tut er natürlich nicht. Rotwild ist sehr menschenscheu.

Das Besondere wird gerade deshalb sein, dass man die Tiere an diesem frühherbstlichen Morgen nicht nur hört, sondern nach Sonnenaufgang und den ganzen Tag über auch sieht – stolzierend, röhrend, mitten in der offenen Weidelandschaft des Guts Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist Paarungszeit, die Brunft des Rotwilds kann man nur an wenigen Orten in Deutschland derart ungestört beobachten.

Rund 2.300 Hektar misst dieses Gebiet der Deutschen Wildtier Stiftung. Haymo Rethwisch hatte es Mitte der Neunziger gekauft, der Hamburger Unternehmer und Jäger wollte sich für den Schutz von Natur und Wild einsetzen. Auch für Rotwild, das in Europa gar nicht bedroht ist, aber der Geweihe wegen stark bejagt wird. Und zwar so, dass man es kaum noch zu Gesicht bekommt.

Die Tiere ziehen sich auf der Flucht vor den Jägern aus ihrem eigentlichen Lebensraum, dem Offenland, in den Wald zurück. Und wie viele andere Wildarten sind Rothirsche wider ihre Natur fast überall nachtaktiv geworden. Dass es auch besser geht, zugunsten der Tiere, scheint Kle­pelshagen zu beweisen.

Platzhirsch mit 80 Frauen

Am Nachmittag zuvor hat der Platzhirsch im Tal der Hirsche, ein sichtlich greises Exemplar mit rundem Rücken und grauem Kopf, sein Kahlwildrudel noch im Griff gehabt. Kahl heißt in der Jägersprache Rotwild, das nichts auf dem Kopf trägt, also alle weiblichen und noch sehr jungen Tiere. Und Platzhirsch ist jener Hirsch, der die Kämpfe um die Gunst der Frauen bislang erfolgreich für sich entschieden hat. Nicht immer aus Kraft, oft auch aus Erfahrung. Er schart die Frauen um sich; hier, im Tal der Hirsche, sind es schätzungsweise 80 Tiere. Nacheinander wird der Hirsch sich mit ihnen paaren – wenn er nicht noch einem Kontrahenten beim Imponieren oder sogar im Kampf unterliegt.

Sosehr man die Natur hier auch genießt und bewundert: Es ist kompliziert

Und Konkurrenz gibt es reichlich. Jetzt, in der Dämmerung des Morgens, versucht sie, das Kahlwild­rudel auseinanderzutreiben. Schöne, jüngere Hirsche traben mitten hinein, die Tiere laufen auseinander. Andere warten am Rand, röhren mit nach oben gestrecktem Kopf um die Wette. Die intensivste Phase der Brunft ist schon vorbei, trotzdem sind noch Kampfrufe zu hören, sogenannte Sprenglaute. Der Platzhirsch versucht mit heiseren Rufen, die hartnäckigen Verfolger loszuwerden. Zehn Konkurrenten hat er an diesem Morgen.

Im Klepelshagener Offenland wird nicht gejagt. Ein viele Hektar großes Stück verwilderte Weidefläche mit Suhlen und Dickungen, also Verstecken aus Schilf oder Büschen, dient als Ruhezone. Zwei Jahrzehnte lang darf das Wild dort nach Auskunft der Stiftung schon ungestört sein. Stattdessen stellt man den Tieren nach, wo man sie zum Schutz der jungen Bäume nicht haben will: im Wald.

Und offenkundig fühlen sich auch Wildschweine und andere Arten im Offenen inzwischen sicher. Man muss nicht lange warten, um Frischlinge mit ihren älteren Geschwistern und Muttersauen, den Bachen, auch tagsüber durchs Tal laufen zu sehen.

Wald vs. Stangenforst

Kann man es nicht überall so machen? Christian Vorreyer, der das landwirtschaftliche Gut in Klepelshagen verwaltet, meint: ja. „Ruhezonen für Wild kann man überall einrichten“, sagt der studierte Forstwirt. Er ist auch für den Laubwald mit vielen alten Buchen zuständig, der nicht nur das Tal der Hirsche säumt. Satt und grün und dunkel ist dieser Wald, ganz anders als zum Beispiel die brandenburgischen Stangenforste mit ihren halbkahlen Kiefern. So einen schönen, robusten Wald sähe man gern häufiger in Deutschland, am besten zusammen mit den Hirschen, der Rohrweihe, die über dem Schilf rüttelt, und all den anderen, teils seltenen Arten, die hier wie selbstverständlich neben dem land- und forstwirtschaftlichen Betrieb gedeihen.

Doch sosehr man die Natur hier auch genießt und bewundert: Es ist kompliziert. Zwar zeigen wissenschaftliche Studien, dass Ruhezonen im Offenland nicht nur dem Rotwild zugutekommen. So haben Wildbiologen auf dem US-Truppenübungsplatz im bayrischen Grafenwöhr in einem fünfjährigen Forschungsprojekt festgestellt, dass jene Flächen besonders artenreich sind, auf denen Rotwild äst.

Wo sonst wuchernde Pio­nierwälder die Pflanzen und Tiere des Offenlands verdrängen könnten, hält der Verbiss das Land offen. Doch ob Ruhezonen auf einen eher durchschnittlichen, also ökologisch weniger stabilen Wald so klare Effekte haben, ist weitgehend unklar. Ähnlich sieht es mit der Forderung aus, die Rotwildbezirke aufzuheben, die es in den meisten Bundesländern noch immer gibt: Die Tiere sollen frei wandern können, anstatt jenseits der abgesteckten Gebiete rigoros abgeschossen zu werden.

Genetische Studien scheinen diese Forderung zu stützen. Die Analyse von Erbgut soll belegen, dass einige der festgelegten Rotwildgebiete die Gemeinschaften räumlich auseinanderreißen. Mit der Folge, dass sich das Wild zur Brunft zwangsläufig in tödliche Gefahr begibt, um andere Teile seiner Population zu erreichen. Die genetische Durchmischung und damit auch Gesundheit des Rotwilds könnte so behindert sein.

Kaum Forschung

In einigen Bundesländern, etwa Schleswig-Holstein, wurden Rotwildbezirke deshalb bereits abgeschafft. Doch mit welchem Erfolg? Es gibt kaum Untersuchungen dazu. Gründliche Forschung wäre aber nötig, um etwa herauszufinden, ob die freie Wanderschaft in erster Linie den Tieren, ihrer Gesundheit und auch den Ökosystemen zugutekommt. Oder ob, wie einige Kritiker meinen, die Forderung nach Freiheit nicht eher ein Vorwand ist, um den Bestand insgesamt zu vergrößern – und mehr Jägern die Möglichkeit zum Abschuss zu bieten.

Warum solche Untersuchungen bisher fehlen, ist unklar. Die Kosten sind immer ein Argument, aber an Gelegenheiten für die Fakten­suche fehlt es eigentlich nicht. Auch Kle­pelshagen trägt mit seinem Anspruch, Jagd und Naturschutz fortschrittlich zu verbinden, bisher recht wenig dazu bei, die Wissenslücken zu verkleinern.

Ein wissenschaftliches Monitoring zu Beständen, Schäden im Wald, überhaupt zu den Auswirkungen der Hege, also der Fürsorge fürs Wild im Jagdgebiet, fehlt selbst nach zwei Jahrzehnten. Schon am Anfang hatte man sich eher auf die Ideen des Stifters verlassen als auf wissenschaftlich Fundiertes. „Haymo Rethwisch verfügte über große Erfahrung als Naturschützer und Jäger und entsprechend über ein großes wildbiologisches Vorwissen“, sagt Stiftungsvorstand Klaus Hackländer. Deshalb sei das Tal der Hirsche entstanden.

Hackländer ist selbst Wissenschaftler, er lehrt Wildtierbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien und ist der Deutschen Wildtier Stiftung seit Langem verbunden. Sie hat seine Habilitation finanziert, ihn ins Präsidium geholt, gerade wurde er zum Vorstand ernannt. Man plane nun für die Zukunft, wolle Erhebungen machen, etwa mithilfe von Wärmebildkameras und Drohnen. Es seien auch schon Forscher zu Gast gewesen. Wie Gutsverwalter Vorreyer verweist Hackländer aber auch auf die Kosten und das fehlende Personal.

Kle­pelshagen und der große Rest

Man kann ohnehin nicht einfach vom vorsichtig genutzten Naturpark einer privaten Stiftung auf zumeist intensiv bewirtschaftete Kulturlandschaften im großen Rest schließen. Welcher Landwirt kann sich neben den ohnehin geforderten Ausgleichsflächen Ruhezonen für Wild leisten, um Schäden vom benachbarten Forst und Feld abzuwenden? Falls das überhaupt immer so funktioniert.

Selbiges gilt auch für den Wald. Sowohl der alte Buchenwald in Klepelshagen als auch die Moor- und Auenwälder in Grafenwöhr mit ihren riesigen Offenlandflächen lassen sich kaum mit einem gemeinen, nicht einmal mit einem großen deutschen Forst vergleichen. Insbesondere wenn ein trister Stangenwald zu mehr Naturnähe umgebaut werden soll: Das klappt nur, wenn von den wenigen gepflanzten jungen Laubbäumchen möglichst viele überleben – und nicht zu kleinen Büschen abgenagt werden.

Und so bleibt der seltene Anblick, schön und für den Platzhirsch mit Happy End. Nach zwei Stunden ist das Kahlwildrudel wieder vereint, die Konkurrenten trollen sich in den Wald oder äsen noch ein bisschen. Sie können es ja am Nachmittag noch mal versuchen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.