Rot-grün-rote Koalitionsverhandlungen: Braucht Berlins Politik Visionen?
Zwischen SPD, Grünen und Linkspartei wird über viele Details verhandelt. Fehlt angesichts der Probleme der Stadt der große Wurf? Ein Pro und Contra.
J a.
Es gilt in Berlin als besonderes Ereignis, wenn etwa wie zuletzt auf der Hermannstraße ein paar Meter Fahrbahn grün bepinselt werden. Es hat ja auch nur acht Jahre gedauert, nachdem erstmals mittels einer Petition Fahrradstreifen auf den Neuköllner Hauptverkehrsachsen eingefordert wurden.
Das ist eine Politik der Trippelschritte. Zum Vergleich: In Paris ist Bürgermeisterin Anne Hildago dabei, in nur einer Legislaturperiode den Individualverkehr aus der Innenstadt zu verbannen, die Hälfte der Parkplätze in Lebensraum umzuwandeln und jede Straße mit einem Fahrradweg auszustatten.
Der Unterschied: Anders als die handelnden politischen Akteure in Berlin hat die Sozialdemokratin Hildago eine Vision – nämlich die „ökologische Umwandlung der Stadt“, die sie mit aller Konsequenz und mit Mut verfolgt. Schaut man dagegen auf die Pläne, die SPD, Grüne und Linke nun für ihre zweiten fünf Jahre verfolgen, sieht man zwar viele kleine Vorhaben, aber kein politisches Projekt mit Strahlkraft. Eine Ausnahme bildet der Plan, Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden.
Doch die umfassende stadtpolitische Revolution aus dem Rathaus wird wieder einmal ausfallen. Die Stadt wird weiter verwaltet werden; ängstlich und stets drei Schritte hinter der Wirklichkeit und dem Notwendigen. Das, selbstverständlich, ist kein Spezifikum Berlins oder einer Mitte-links-Regierung, sondern landauf, landab dasselbe.
Die nächsten Tage könnten darüber entscheiden, ob es in Berlin erneut zu einer Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei kommt. Bei den seit mehreren Wochen laufenden Koalitionsverhandlungen stehen am Mittwoch und Samstag die Themen Verkehr und Stadtentwicklung auf der Tagesordnung, bei denen die Differenzen zwischen SPD auf der einen Seite und Grünen und Linken auf der anderen besonders groß sind.
Bislang ist vorgesehen, dass am 24. November der Koalitionsvertrag steht, der danach noch von Parteitagen und im Falle der Linken von einem Mitgliederentscheid bestätigt werden muss. Am 21. Dezember könnte dann die neue Regierende Bürgermeisterin im Abgeordnetenhaus gewählt werden. Eine Verlängerung der Verhandlungen um rund eine Woche wäre aber möglich – und ist wohl wahrscheinlich. (bis)
Um die Verhältnisse auch mal auf den Kopf zu stellen, fehlt den Regierenden nicht nur die Erkenntnis, sondern auch die Courage. Man müsste Gegenwind aushalten können, würde man etwa Autos aus dem Inneren des S-Bahn-Rings verdrängen oder die Stadtautobahn zurückbauen wollen. Schließlich hatten viele schon ein autobefreites Teilstück der Friedrichstraße für den Untergang der Zivilisation gehalten. Der Mut fehlt leider schon für flächendeckendes Tempo 30, für eine finanziell und personell untermauerte echte Fahrrad-Offensive und für einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr oder auch nur dessen weniger mutige Variante, die 365 Euro im Jahr kosten würde.
Selbst da, wo so ein Systemwandel von den Bürger*innen erzwungen wird, bleibt es wohl beim Klein-Klein. Dabei hätte ein Bekenntnis zu einem Vergesellschaftungsgesetz einen großen Vorteil: Man könnte es auf die Bürger:innen schieben. Oder noch besser: Man würde es einbetten in die politische Vision einer Stadt, in der die Mehrzahl der Wohnungen in den Händen gemeinwohlorientierter Akteure ist – und die gesamte Stadtentwicklungspolitik danach ausrichten.
Rot-Grün-Rot könnte auch das segregierte Bildungssystem zugunsten von Gemeinschaftsschulen überwinden oder eine Solidarity City sein, in der niemand illegalisiert oder abgeschoben wird. Die Möglichkeiten echten politischen Gestaltungswillens sind immens. Der tatsächliche Output dagegen ist frustrierend. Erik Peter
Nein.
Visionen? In Berlin? Der Stadt, die Wahlen nicht auf die Reihe bekommt? In der es Monate dauern kann, bis Eltern eine Geburtsurkunde für ihre Neugeborenen erhalten? In der es eine grüne Regierungspartei im von ihr geführten Verkehrsressort binnen fünf Jahren nicht schafft, auch nur einen Radschnellweg fertig zu planen, geschweige denn zu bauen? Und grundsätzlich mit mehr Schutz für Radfahrer nicht vorankommt? In der Menschen sich an Orten, die seit Jahrzehnten ihr Wohnumfeld sind, nicht mehr sicher fühlen? Eine Stadt, in der die Regierung einen sehr überschaubaren Neubau ihrer Zentralbibliothek plant und dann ankündigt, Baubeginn – nicht etwa Eröffnung – sei sieben Jahre später.
Einer solchen Stadt kann man nur sagen, was säumige Kinder zu hören bekommen: Mach erst mal deine Hausgaben, danach kannst du spielen gehen. Sprich: Erst mal muss Berlin funktionieren, bevor es sich Visionen leisten kann – wobei ein wirklich funktionierendes Berlin inzwischen so wenig in Reichweite scheint, dass es selbst schon eine Vision ist.
Leider ist zu befürchten, dass das nicht alles nur an Verwaltungsstrukturen liegt, die zu überholen sind – etwa durch Richtlinienkompetenz für die Bezirksbürgermeister und endlich, endlich mal einer Klärung, welche Ebene was in Berlin macht. Der Quasiföderalismus mit den zwölf Bezirken darf nicht länger dazu führen, dass in einzelnen Stadtgebieten dringend nötige Neubauprojekte stagnieren – Wohnungen sind von landesweiter Bedeutung und keine Bezirksangelegenheit.
Aber das ist es eben nicht allein. Es ist symptomatisch, wenn kurz nach den Wahlpannen vom 26. September gleich zwei Regierungsmitglieder die Blamage dadurch zu relativieren versuchten, indem sie darauf verwiesen, dass es in der Mehrzahl der Wahllokale doch gut gelaufen sei. Der Anspruch auf Perfektion und Bestleistung, er ist jenseits des Status von Freier und Humbodlt-Universität als Exzellenz-Unis nicht sonderlich verbreitet. Hochleistung und ihre Förderung gilt weithin als elitär und damit natürlich als unsozial abzulehnen.
Da ist es kein Wunder, das es dann irgendwann hier ein bisschen hakt und dort ein bisschen klemmt – was dann in Kommentaren damit schöngeredet wird, Berlin sei „so herrlich unfertig“. Auf dieser Basis sind Visionen reine Selbstbespaßung von Menschen, die entweder keine schulpflichtigen Kinder oder kein anzumeldendes Auto haben, keine größere Wohnung brauchen, nicht Rad fahren, von Natur aus nie Angst haben und denen es egal ist, dass ihre Stadt in Restdeutschland zur Lachnummer mutiert.
Mehr denn je gilt hier der viel zitierte Satz des damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Zum Augen- und Ohrenarzt, wäre hinzuzufüpgen, um endlich mal besser zu sehen und zu hören, was alles an Pflicht noch ansteht, bevor an jegliche Kür zu denken ist. Stefan Alberti
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