piwik no script img

Roman über schwarze FrauenEmotionale Leerstellen

„Mädchen, Frau etc.“: Bernardine Evaristo schreibt einen Roman über schwarze Frauen in Großbritannien, quer durch die kulturellen Szenen.

Ein Aufstieg ins Establishment ist möglich, aber die Ausgrenzungen sind noch in Kraft Foto: Richard Baker/getty images

Man liest über: eine schicke Theaterpremiere im Londoner National Theatre, Alleinerziehende in kleinen Sozialwohnungen, Lesben-Kommunen in den USA, auswandernde Paare aus Nigeria, das Leben von sich in die Karibik zurückgezogenen Seniorinnen, Sozialaufsteigerinnen, Lehrerinnen, eine Trans*­Per­son und manche Figur mehr.

Der Roman „Mädchen, Frau etc.“, für den Bernardine Evaristo 2019 den Booker-Preis gewann (gemeinsam mit Margaret Atwood), verfolgt die Lebensläufe von zwölf britischen Frauen, die meisten von ihnen schwarz, viele von ihnen lesbisch. Das Buch ist eine Bestandsaufnahme der Fülle, des Selbstbewusstseins und vor allem der Heterogenität der afrobritischen Community, quer durch die kulturellen Szenen und sozialen Schichten, Lebensalter und Lebensentwürfe.

Das literarische Ereignis des Romans ist aber seine Sprache, die flüssig zu lesen, aber schwer zu beschreiben ist. Die wichtigsten Merkmale: Bernardine Evaristo setzt keine Punkte, stattdessen lässt sie nach jeder kleinen Zäsur die Zeilen enden. Das Ergebnis ist eine bewegliche, oft gewissermaßen atmende Sprache, mit der die Autorin manchen Effekt erzeugt.

Emotionale Unachtsamkeit

Nur ein Beispiel. Nachdem ihre Eltern der 16-jährigen Penelope eröffnet haben, dass sie adoptiert ist, sitzt die Familie am Essenstisch. Die Eltern

„verzehrten die Lammkoteletts, die Minzkartoffeln und die Buttererbsen, die es samstags immer zu Mittag gab

reichten einander die Soße

reichten einander das Pfeffer

reichten einander das Salz“

Mehr als diese Zeilenbrüche braucht es nicht, um die emotionale Unachtsamkeit der Eltern auszudrücken (und dass Penelope es gar nicht fassen kann). „Fusion Fiction“ nennt Evaristo diesen Stil. Eine Mischung aus Beschreibungsprosa, dem Drama ständiger Selbstreflexion und der Lyrik des Fühlens. Beim Lesen kann das einen großen Sog entwickeln.

Angeordnet sind die zwölf jeweils aus der Sicht einer der Frauen geschriebenen Abschnitte (es gibt noch einen Schlussabschnitt und dann noch einen Epilog) als eine Art Reigen. Gerade hat man ein Leben aus der einen Perspektive geschildert bekommen, da kommt im nächsten Abschnitt die andere Perspektive.

Aus der Hochhauswohnung in die Bankerkarriere

So begleiten wir im vierten Abschnitt Caroles Lebensweg, der sie aus einer engen Hochhauswohnung mit Hilfe einer strengen Lehrerin in eine Bankerkarriere führt. Der Aufstieg gelingt also, aber die Kosten werden auch klar. Carole muss viele Mikroaggressionen weglächeln und darf sich keine Schwächen erlauben.

Hoffentlich wird es einmal Essays über den Umgang dieses Romans mit Rassismus geben

Im nächsten Abschnitt geht es um die Hintergründe von Caroles Mutter Bummi. In Nigeria lernt sie auf der Uni einen Mann kennen, mit dem sie dann nach London geht, wo ihre Uniabschlüsse nichts wert sind. Er fährt Taxi, stirbt früh, sie schlägt sich als Reinigungskraft durch, gründet dann eine eigene Firma, führt schließlich ein ruhiges Leben allerdings voller emotionaler Leerstellen – Bernardine Evaristo ist eine Meisterin darin, die Ambivalenzen der Lebensentwürfe herauszuarbeiten.

Dann springt das Geschehen zu LaTisha, einer toughen, die Bitch performende Schulfreundin von Carole, die drei Kinder von drei verschiedenen Männern bekommt – LaTishas immer wieder anders scheiternde Vorsätze, nicht gleich beim ersten Date Sex zu haben, beschreibt Evaristo sogar mit einiger Komik (wobei die jeweiligen Männer natürlich schlecht wegkommen).

Ohne Ambivalenzen geht es nicht

Als nächstes geht es um Shirley, die strenge Lehrerin, von LaTisha „Arschgesicht“ genannt, die sich in einem weißen Lehrergremium behaupten muss. Darauf wird aus der Sicht von Shirleys Mutter Winsome erzählt, die sich darüber freuen kann, dass es ihre Kinder zu mehr gebracht haben als sie, die aber auch – ohne Ambivalenzen macht es Evaristo nicht – in ihren Schwiegersohn, eine virilere Version ihres eigenen Mannes, heimlich verliebt ist.

Viele der einzelnen Lebensentwürfe sind interessant. Es gibt traumatische Ereignisse im Hintergrund, Familiengeheimnisse, überraschende Wendungen. Auch so eine Figur wie LaTisha kleidet Evaristo mit Würde aus. In Shirley setzt sie der Figur einer ambitionierten Lehrerin, die gegen den Niedergang des britischen öffentlichen Schulsystems seit Thatcher nicht ankommt, ein Denkmal. Was einen aber genau durch das Buch zieht, sind die Beziehungen der Figuren untereinander. Allmählich entsteht ein Teppich von Sichtweisen und Verknüpfungen.

Das Wort „lebensprall“ trifft das Buch ganz gut. Zumindest wenn man gleich hinzufügt, dass es hier nicht um das Leben an sich geht, sondern um das Leben in einer ganz konkreten Situation. In einer Einwanderergesellschaft. Unter den Bedingungen des Rassismus (und Sexismus). In einem historischen Augenblick, in dem man glaubhaft schildern kann, dass einigen der Figuren der Aufstieg ins Establishment gelingt und insgesamt die groben Zuschreibungen und Ausgrenzungen weiterhin in Kraft sind.

Rassismus überall

Was Rassismus betrifft, wird es hoffentlich einmal wissenschaftliche Essays über den Umgang dieses Romans mit ihm geben. Er ist für die Figuren so massiv vorhanden wie die Schwerkraft, geschildert wird er in allen möglichen Ausprägungen von handfester Ausgrenzung bis hin zum Wegrücken im Fahrstuhl.

Streckenweise funktioniert der Roman auch wie ein Geschichtsbuch. Beschrieben wird etwa, wie Bummi und ihr Mann sich durch das Südengland der fünfziger Jahre schlagen, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, Arbeit als Fischer zu finden: ein Spießrutenlaufen mit Beschimpfungen, Verhöhnungen und Angespucktwerden.

Der Rassismus ist das Medium, in dem sich diese Lebensläufe bewegen. Doch er wird hier nicht verhandelt, und er soll hier auch gar nicht allein handlungsmotivierend sein. Entscheidend für die jeweiligen Lebensläufe sind vielmehr die Beziehungen der Figuren untereinander. Da geht es viel um Familie und das Zusammenraufen in ihr, um Freundschaften und ob sie auch über Konflikte und veränderte Lebenssituationen tragen, viel auch um Sex. „Mädchen, Frau etc.“ ist aber auch ein Roman über Trennungen. Es gibt toxische Liebesbeziehungen, Unerfülltes.

Über LaTisha heißt es an einer Stelle: „sie versuchte, das alles zu begreifen, sich selbst zu begreifen“. Dieser Satz ist ein Schlüssel für den Roman als ganzes. Die Suche nach sich selbst treibt die meisten Figuren um, die Identitätssuche (und eben nicht die Übernahme angeblich feststehender Identitäten) fungiert mindestens ebenso sehr als Motor ihrer Lebensentwürfe wie ihre Bemühungen, beengten sozialen Verhältnissen zu entkommen.

Die Verkörperung des Anderen

Nicht entgehen lassen sollte man sich aber auch die abgründigen Ironien des Buches, etwa in Bezug auf die Analyse, dass die Bevölkerung „les négresses mehrheitlich nicht als persönlichen Bezugspunkt sieht, sondern vielmehr als Verkörperung des Anderen“. Dieser Satz wird einem etwas slicken schwarzen Professor in den Mund gelegt, der auch in Smalltalksituationen zum Dozieren neigt, weshalb sich seine Gesprächspartner immer schnell aus dem Staub machen.

Das Buch

Bernardine Evaristo: „Mädchen, Frau etc.“ Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen Verlag, Stuttgart 2021. 512 Seiten, 25 Euro

Jaja, heißt das, Verkörperung des Anderen, schon wahr, aber es hat auch etwas Blutleeres, das nur zu analysieren – während der Roman Differenzierungen beschreibt, individuelle Perspektiven, persönliche Bezugspunkte, auch Konflikte untereinander.

An anderer Stelle schildert Evaristo die soziale Technik des „Hello-Goodbye-Sandwichs“: überschwängliche Begrüßung, überschwänglicher Abschied, dazwischen möglichst wenig sagen. Wir sind hier auf einer Premierenparty, da verfahren viele Menschen tatsächlich so. Bernardine Evaristo ist einfach auch eine gute Beobachterin.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!