Roman über Klimakatastrophe: Gewöhnt euch dran
„Der Anfang von morgen“ heißt der neue Roman des schwedischen Autors Jens Liljestrand. Er zeigt die Folgen des Klimawandels auf.
Sind wir denn vollkommen verblödet? Ganz Europa verzeichnet Rekordtemperaturen, Flüsse trocknen aus, Wälder brennen, Menschen sterben. Aber wir regen uns wochenlang darüber auf (manche fordern gar Haftstrafen!), wenn Aktivist:innen der Letzten Generation stundenweise den Verkehr lahmlegen. Weil Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft seit Jahrzehnten ignorieren, dass uns die Zeit davonläuft.
Fragt man Expert:innen, warum wir unsere ressourcenvernichtende Existenz nicht verändern, wird eine emotionale Entfremdung zwischen Mensch und Natur angeführt. Wir müssten emphatischer werden, „fühlen, was die Welt fühlt“, fordert etwa der Psychosomatiker Joachim Bauer, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bestehen.
Der PR-Berater Didrik fühlt schneller, als ihm lieb ist, was die Welt fühlt. Als er sich mit seiner Familie von der Pandemie am Siljansee im Herzen Schwedens erholt, kommt es zu einer Katastrophe. „Da hinten im Wald brennt es. Zeit, sich davonzumachen – jetzt sind wir auch Klimaflüchtlinge. Traurig, aber wahr. #climatechange“ twittert er noch, bevor er seine Frau und seine Kinder aus der Gefahrenzone bringen will. Doch das Auto springt nicht an. Zu Fuß versuchen sie, in den nächsten Ort zu kommen, um von dort evakuiert zu werden.
Eindrücklich wird diese Szene im Roman beschrieben. Die Hitze drückt auf jeden Muskel, das Knacken des brennenden Holzes dröhnt in den Ohren, der in der Luft stehende Rauch brennt in der Lunge. Als sie nach Stunden im Nachbarort ankommen, ist der längst geräumt. Und das Feuer rückt unaufhaltsam näher. Um dem Inferno heil zu entkommen, muss der Familienvater einige Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die er schon bald bitter bereuen wird.
Jens Liljestrand: „Der Anfang von morgen“. Aus dem Schwedischen von Thorsten Alms, Karoline Hippe, Franziska Hüther, Stefanie Werner. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2022, 544 Seiten, 24 Euro
Es ist ein apokalyptisches, aber alles andere als unrealistisches Szenario, das Jens Liljestrand an den Anfang seines über 500-seitigen Romans „Der Anfang von morgen“ stellt. Im Sommer 2018 erlebte Schweden die schlimmsten Waldbrände seit über hundert Jahren. Damals gerieten über 30.000 Hektar Wald in Brand, die aufsteigenden Rauchsäulen konnte man selbst vom Weltall aus sehen. Das inspirierte den Schweden zu seinem Roman.
Scham, Schmerz, Leid
In vier Kapiteln erzählt Liljestrand vom Klimawandel als menschlicher Erfahrung, verbunden mit Scham, Schmerz, Leid und Liebe. Er selbst spricht von einer „Geschichte über das Abnormale als Normalität“. Dabei ist jedes Kapitel aus der Ich-Perspektive einer seiner Hauptfiguren erzählt – neben dem Familienvater sind dies eine junge Influencerin, der Sohn einer Tennislegende und Didriks älteste Tochter Vilja. „Schäm dich nicht, ein Mensch zu sein!“, postet Melanie regelmäßig auf ihren Social-Media-Kanälen, wo sie sich freizügig zeigt.
Ginge es nach ihr, würden die Menschen ihr Leben in vollen Zügen genießen. In der Klimabewegung mit all ihren Verbotsforderungen sieht sie einen „Todeskult“, der die Menschheit „zurück in die Höhlen treiben will“. Nach und nach wird deutlich, dass der Kampf, den sie aus dem Internet auf die Straße trägt, ein Stellvertreterkrieg ist, um ganz andere Schmerzen kleinzuhalten. Als Didrik dann mit seiner Tochter Becka bei ihr Zuflucht sucht, eröffnet sich ihr ein unverhoffter Ausweg aus ihrem beklemmenden Dasein.
In seinem Leben gefangen fühlt sich auch André, unehelicher Sohn von Anders Hell, einem gealterten Tennis-Star, der wie Björn Borg, Mats Wilander und Stefan Edberg zu Schwedens goldener Generation gehört. Seit Jahren muss sich der Student die hämischen Kommentare seines Vaters anhören. Er sei nicht gut genug, nicht sportlich genug, im wahrsten Sinne des Wortes ein Weichei. Und dennoch sucht er dessen Liebe. Als er ihm auf einem Segeltörn eröffnet, über die Geschichte des Leids in der Welt zu schreiben, löst dies Debatten aus, in denen sein Vater in bester Whataboutism-Manier ethisch-moralische Vorwürfe zurückweist. Jetzt probt André den Aufstand.
Teenager übernehmen Verantwortung
Verantwortung für die eigene und künftige Generationen übernehmen (auch) hier nur Teenager. Während Viljas Vater mit ihrer Babyschwester nach Stockholm flieht, bleibt sie mit ihrer Mutter in der Krisenregion. Dort wird sie Hilfe für die Geflüchteten organisieren und die Kraft der Liebe entdecken. Und sie sucht ihren Bruder Zack, von dem seit der Flucht aus den Flammen jede Spur fehlt. Dabei wird die 14-Jährige (wie vor ihr Greta Thunberg) über sich hinauswachsen und zur Heldin des Romans.
Wer sind wir? Und wie konnten wir so werden? Diesen Fragen geht Jens Liljestrand in seinem Pageturner auf den Grund. Er gibt seinen Figuren Geschichte und Geschichten, geht zum Teil Jahrzehnte zurück, um ihr Handeln im Ausnahmezustand emotional zu verankern. Zugleich nutzt er die vier Stimmen (für die in der deutschen Fassung vier verschiedene Übersetzer:innen verantwortlich sind), um gesellschaftliche Phänomene wie politisches Versagen, eskalierende Diskurse, soziale Ungleichheit, junges Engagement sowie Alltagserscheinungen wie Liebe, Betrug und Vergebung zu diskutieren.
Dass die einzelnen Lebensgeschichten dabei ziemlich weit davontragen, spricht für ihre literarische Eigenständigkeit. Zugleich klappert aber ihre über erzählerische Motive gestrickte Montage zu einem Roman. Obwohl der vom Menschen verursachte Klimawandel aus den gesellschaftspolitischen Debatten (und dem Sachbuchregal) nicht mehr wegzudenken ist, spielt er in der zeitgenössischen Literatur nur eine Nebenrolle. Dabei wären Fiktionen, die die abstrakte Bedrohung der folgenschweren Erderwärmung in glaubhafte und konkrete Geschichten überführen, wichtig, um vom Wissen zum Verstehen und schließlich zum Handeln zu kommen und aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit unserer Zeit zu treten.
Schätzings „Schwarm“!
Frank Schätzings Bestseller „Der Schwarm“ aus dem Jahr 2004 war ein erstes literarisches Ausrufezeichen, das die Hoffnung auf eine solche Literatur nährte, blieb aber lange ein Solitär. Mit Maja Lundes Klima-Quartett erhielt die Climate Fiction neuen Schwung. Viel mehr als eine Handvoll lesenswerter Werke sind seither jedoch nicht erschienen.
Jenny Offills Momentaufnahme „Wetter“ über die Klimawandeldebatten in den USA oder Kim Stanley Robinsons optimistische Vision „Das Ministerium der Zukunft“ über die lernende Menschheit sind gut recherchierte und plausible Geschichten einer Welt im Wandel. Ali Smith’ zwischen Tierschutz, Klimawandel und Lockdown wandelnder Roman „Sommer“ und Richard Powers Porträt eines jungen Klimaschützers „Erstaunen“ zielen ins Zwischenreich von Naturkunde und Gesellschaftsroman.
Hierzulande haben Helene Bukowski in ihrem Debütroman „Milchzähne“, Roman Ehrlich in dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Ökothriller „Male“ oder John von Düffel in seinem Klimaprotest-Roman „Der brennende See“ die Folgen einer Welt auf der Kippe zuletzt überzeugend in den Blick genommen.Für gute Climate Fiction gilt, was für gute Literatur gilt: Sie lässt uns verstehen, was mit der Welt und uns passiert.
Welt aus den Angeln
Jens Liljestrand nimmt die aus den Angeln gehobene Welt und beobachtet die Menschen, die sie bewohnen. Er erklärt nicht den Klimawandel in seinen verschiedenen Aspekten und Abhängigkeiten, sondern zeigt, wie wir leben, wenn Hitzewellen und Waldbrände längst Alltag sind. An die Stelle der (für Westeuropäer) abstrakten Bedrohung von schmelzenden Polen und steigendem Meeresspiegel rückt die konkrete Katastrophe, in der Menschen emotionale Entscheidungen treffen, die Chaos und Gewalt befördern. „Gewöhn dich dran“, so die Warnung, die immer wieder ertönt.
„Dieser Sommer war nicht der heißeste. Es war der kälteste, verglichen mit dem, was uns die nächsten Jahre erwartet“, kommentiert Vilja im Rückblick. Vor diesem Hintergrund sollten wir die Zeit nutzen, um uns auf die Zukunft vorzubereiten.
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