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Das Brüchige und Kaputte der Gegenwart in Istanbul

Anstatt einfach an ihre Roadnovel „Töchter“ anzuknüpfen, hat Lucy Fricke einen politischen Roman geschrieben. „Die Diplomatin“ spielt vor dem Hintergrund der autoritären Türkei. Eine Begegnung

„Man soll bitte meine Leserinnen nicht unterschätzen“: Lucy Fricke Foto: Gerald von Foris

Von Leonie Gubela

Das Café Goldberg in Berlin-Neukölln. Die Schriftstellerin Lucy Fricke mochte es hier lieber, als man zum Heißgetränk noch rauchen durfte. Nun erscheint ihr neuer Roman „Die Diplomatin“, der davor, „Töchter“, war ein großer Erfolg. Ein Roadnovel über zwei Frauen und ihre Väter, übers Sterben und übers Anwesendsein. Für „Töchter“ fuhr sie mit einem kaputten Golf und mangelnder Fahrpraxis von Berlin nach Griechenland. Für „Die Diplomatin“ (Claassen Verlag, 256 Seiten, 22 Euro) reiste sie in einem intakten Flugzeug noch ein bisschen weiter, nach Istanbul.

Die Reise führte passenderweise auf das Gelände der Sommerresidenz der Deutschen Botschaft im Istanbuler Stadtteil Sarıyer, direkt am Bosporus. Dort hat die Kulturakademie Tarabya ihren Sitz. Dort hatte Lucy Fricke viele Monate einen Schreibtisch. Entstanden ist der Roman zwar erst danach, aber so laufe das jedes Mal, wenn sie mit einem Künstlerstipendium ins Ausland gehe. „Pünktlich zum Ende des Aufenthalts weiß ich, wie ich die Geschichte erzählen will, und dann muss ich noch mal wiederkommen, auf eigene Kosten“, sagt Lucy Fricke.

Ein paar überquerte Ländergrenzen waren nötig, um nach Monaten der Buchvermarktung diese Empfindsamkeit zurückzuerlangen, die es braucht, um etwas Neues zu schrei­ben. Das mag sie an der Ferne: Aus den eigenen festen Strukturen rauskommen und wieder jemand Unbeschriebenes sein.

Ihre erste Zeit in Istanbul verbrachte Lucy Fricke damit, sich ein bisschen von sich selbst zu lösen, den Fokus auf alles um sich herum zu richten. „Das ist ganz komisch eigentlich, denn je größer die Neugier auf eine neue Umgebung, desto mehr bin ich auch wieder bei mir.“

Sie findet es nicht unangenehm, eine Sprache so überhaupt nicht zu verstehen. Im Gegenteil, es stärke die Wahrnehmung ganz anderer Dinge: Wie Menschen miteinander umgehen, wie sie essen, wie sie trinken, wie sie sich bewegen, wie laut oder leise sie sind. Faszinierend sei das, wenn man darauf angewiesen ist, dem Gesamteindruck, nicht nur Worten, zu vertrauen.

Um interkulturelle Kommunikation geht es auch in „Die Diplomatin“, nur eben auf höchster Ebene. Die Protagonistin Friederike Andermann handelt als Botschafterin in Montevideo erstmals in ihrer langen Karriere abseits des Protokolls und wird als Konsulin nach Istanbul versetzt. Dort hat sie zu tun mit inhaftierten Künstlerinnen, Angehörigen, die das Land nicht mehr verlassen dürfen, ausgeraubten Korrespondenten und der bröckelnden deutsch-türkischen Beziehung.

Lucy Fricke war genau 20 Jahre vor ihrem Aufenthalt in der Villa Tarabya zum ersten Mal in Istanbul. 1999, kurz nach dem schweren Erdbeben von Gölcük mit fast 20.000 Toten. Sie arbeitete damals als Continuity-Managerin beim Film, war dafür verantwortlich, Anschlussfehler zu vermeiden, da war sie 25 Jahre alt. Gedreht wurde das Roadmovie „Im Juli“ von Fatih Akın.

Mit der „Diplomatin“ hat Lucy Fricke nun draufgehalten auf das Brüchige und Kaputte der Stadt. Sie trifft Menschen, die unter Hausarrest stehen, auf einen Prozesstermin warten oder abgetaucht sind. Eine Dokumentarfilmerin, die sich ebenfalls in der Villa Tarabya aufhält, recherchiert schon länger zu Is­tan­bu­le­r:in­nen im Untergrund und nimmt sie mit.

Unter Hausarrest

Irgendwann habe sie die Schönheit der Stadt kaum noch sehen können, nach zwei, drei Monaten setzte sie ein, die Türkeidepression. Selbst wenn Fricke all die Gespräche mit Verfolgten nicht geführt hätte, so werde man doch ständig damit konfrontiert, in einem autoritären Staat zu leben. Handys würden ganz selbstverständlich ausgeschaltet ins Nebenzimmer gelegt, es sei völlig normal nicht offen zu sprechen und Codes zu verwenden.

Sie merkt, dass alles, was sie in ihrem Roman erzählen will, in der Diplomatie mündet. In der Figur eines Botschafters, der vermeintlich den ganzen Tag nur lacht, lügt und Lachs frisst und von seinem Vorgänger bei der Amtsübergabe lediglich über die besten Restaurants der Stadt informiert wird. „Je mehr ich aus dem Genre Diplomatenroman gelesen habe, desto stärker fiel mir auf, dass die Protagonisten meist versnobbte, versoffene Typen sind, die an irgendeinem abgelegenen Ort hocken und sich langweilen“, sagt Fricke. „Mein Eindruck ist aber ein ganz anderer.“

Lucy Fricke weiß früh, dass sie wieder aus der Perspektive einer Frau schrei­ben wird, die in der Regel sehr viel mehr aufgeben musste als ihr männlicher Amtskollege. Die Protagonistin Friederike Andermann ist ledig und kinderlos, ihr Fast-Ehemann trennte sich während ihres ersten Auslandspostens von ihr. Er könne kein MAP sein, lautete die Begründung, kein „mitausreisender Partner“ oder wie er vermutete: man at the pool.

Die Frau des deutschen Botschafters in Ankara organisiert für Lucy Fricke mehrere Mittagessen mit Botschafterinnen aus der ganzen Stadt. Es wird zu einer Art Stammtisch, bei dem es mehr um Persönliches als ums Parkett gehen soll. Aber Lucy Fricke lernt auch Begriffe wie „Cover your ass“ – Vorkehrungen treffen, um die Verantwortung auf eine andere Behörde abzuwälzen – oder „Zitterprämie“, der Zuschlag für einen Posten in besonders gefährlichen Regionen.

Herausgekommen aus diesen Recherchen ist eine Protagonistin, der man über den gesamten Verlauf des Buchs beim Kämpfen zuschaut. Gegen die Einsamkeit, gegen die Bitterkeit, gegen die Angst. Man merkt dem Roman die lange, intensive Beschäftigung mit dem Thema an, das Buch nimmt einen mit auf seelenlose Empfänge, hinter verschlossene Türen und in den Frauenknast.

Dass der Roman trotz des Settings an keiner Stelle bleiern wird, liegt auch an Andermanns trockenem Witz. Erzählt wird eine rasante Geschichte, die zeigt, was passiert, wenn überzeugten Be­am­t:in­nen die Geduld abhandenkommt. Friederike Andermann entscheidet sich gegen den Zynismus und für die Selbstermächtigung, ohne die Diplomatie hinter sich zu lassen. Dafür muss sie sich selbst ans Steuer setzen. Es wäre kein Roman von Lucy Fricke, wenn die Protagonistin nicht irgendwann den Motor anschmeißen und losfahren würde. Nur ist es diesmal eine S-Klasse.

Eine rasante Geschichte, die zeigt, was passiert, wenn überzeugten Beam­t:in­nen die Geduld abhanden kommt

Als ihr letzter Roman „Töchter“ so abhob, begann Lucy Fricke, ein bisschen „gepanzerter“ durchs Leben zu gehen. Denn mit durchlässigem Gemüt sind diese Wochen der Aufmerksamkeit, der Rezensionen, Interviews und Lesungen nur schwer zu bewältigen. Der Erfolg des Romans machte den Panzer stabiler, alles andere weicher. Auf dem Konto war nun ein Polster, und Lucy Fricke bemerkte ganz nebenbei, dass sie schlafen kann, fest und gut.

Ihren Agenten dagegen machte das nervös, denn Lucy Fricke, die braucht doch diesen Druck im Nacken, ohne neues Manuskript aus der Wohnung zu fliegen, was wenn ihr vor lauter Wohlsein nichts mehr einfällt? Seitdem sind drei Jahre vergangen, der Agent hat sich beruhigt und Lucy Fricke den Roman geschrieben, den sie immer schreiben wollte: einen politischen.

Von der Idee war ihr ehemaliger Verlag, Rowohlt, eher mittel begeistert. Man habe sich dort gesorgt um die Zehntausenden Frauen, die „­Töchter“ so liebten. Ob man die damit halten könne? „Man soll doch bitte meine Leserinnen nicht unterschätzen“, sagt Lucy Fricke.

Kurzzeitig habe sie sich ihr Publikum in einem Boot sitzend vorstellen müssen, schwankend auf dem Meer, die Wucht der Wellen abhängig davon, welchen Themen sie sich in ihrem neuen Roman widme. Quatsch natürlich, „so kriegt man ja keine Zeile aufs Papier“.

Lucy Fricke selbst sieht es nach­voll­ziehbarerweise so: „Die Diplomatin“ sei aus einer persönlichen Entwicklung entstanden, sie interessiere sich immer weniger für sich selbst, immer mehr für das, was um sie herum passiere. „Das ist ja das Schöne, wenn man auf die 50 zugeht.“

Friedlichkeit bringt Friederike Andermanns Gedanken zum Erliegen. Lucy Fricke kennt das, auch sie braucht eine gewisse Unruhe, um ihr Hirn in Bewegung zu versetzen. Istanbul sei da genau der richtige Ort gewesen. Sie weiß, die Zeit der Durchlässigkeit geht für sie nun zu Ende, die gepanzerte Phase beginnt.

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