Roman über Diktatur in Rumänien: Staunen und fremdeln

Beim Bachmannpreis in Klagenfurt war Dana Grigorcea die große Entdeckung. Jetzt erscheint „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“.

Dana Grigorcea bei der Lesung

Bachmannpreis: Die Autorin bei der Lesung. Foto: dpa

Als sie dann da war, hat sie alles mit ihrer Fantasie abgeglichen. Die Zuschauerreihen. Die Enge. Die Kameras, das Licht. Das Studio stimmte, es war, wie sie es sich vorgestellt hatte: eher ein Schuppen. Klimatisierter als erwartet. Im Kopf hatte Dana Grigorcea diese Szene so oft durchgespielt – wie sie in Klagenfurt um den Bachmannpreis lesen wird, alle warten und lauschen, „alle schauen auf das, was ich mache“ –, dass sie Angst hatte, die Realität würde sie langweilen.

Aber so war es dann nicht. Sie mochte den Moment, als sie las, und sie hat den 3sat-Preis gewonnen, für einen Auszug aus ihrem Roman, der nun erscheint. „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, betitelt wie ein Klassiker, gehöre neben „Auf der Suche nach der verloren Zeit“ ins Regal, befand die Klagenfurter Jury schon nach wenigen Zeilen, und habe das Zeug zum „großen Gesellschaftsroman“. Und hätte sie das nicht befunden – so sagt Dana Grigorcea, die jetzt zu Hause sitzt, auf einer Terrasse in Zürich, am Ohr das schließlich doch aufgetauchte Handy, das ihre Kinder eine Weile versteckt hielten: „Ein Verriss wäre auch ein Fest geworden.“

Dass sie immer so arbeitet, sagt Dana Grigorcea. Immer drei Schritte nimmt: sich Dinge ausmalen; die Dinge beschreiben; prüfen, ob die Dinge in der Wirklichkeit Bestand haben. Vor Kurzem ist sie von Zürich nach Bukarest gereist, in ihre Geburtsstadt – genau wie ihre Protagonistin.

Hier ist sie erwachsen geworden und, genau wie ihre Protagonistin, ihre alte Straße entlanggelaufen. Die Dr.-Joseph-Lister-Straße bis zur Nationaloper. Sie hat denselben Bus genommen wie früher, den 368er, war im Regierungsviertel Cotroceni, am Heldenplatz und in der Passage Macca-Villacrosse. Sie hat zu dem Gebäude gesehen, in dem ihr Großvater einst als Bürgermeister saß. Zu seiner Zeit, lange her ist das, Rumänien war damals noch ein Königreich.

Wer auf Fructose, Laktose und Gluten verzichtet, wird schnell als durchgeknallt abgestempelt. Tatsächlich gibt es einen Hype. Aber es gibt auch die, die wirklich leiden. Warum die sich missverstanden fühlen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. August 2015. Außerdem: Gefängnisse gelten auch in Europa als Brutstätten für islamistische Attentäter. Drei deutsche Muslime tun alles, um das zu verhindern. Ein Gespräch mit Philipp Ruch, dem Gründer des Zentrums für Politische Schönheit: In Deutschland ist man zynisch und lethargisch, sagt er. Und: 70 Jahre nach Hiroshima wird nicht ab- sondern aufgerüstet. Noch nie war es so billig eine Atombombe zu bauen. Dazu: welche Atomkriege durch Fehlalarme, Schlamperei und Drogenmissbrauch beinahe stattgefunden hätten. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Veränderung abtasten

Und sie ist an den Gebäuden vorbeigekommen, die zu ihrer Zeit entstanden sind: an Diktatorenarchitektur, dem Zuckerbäckerstil. Am legendären Parlamentspalast, für dessen Errichtung Alleinherrscher Ceaușescu einen großen Teil der Altstadt abreißen und gut 40.000 Menschen umsiedeln ließ. Zehn Jahre alt war Dana Grigorcea gerade, als Nicolae Ceaușescu und seine Frau hingerichtet wurden und alle von der Wende sprachen. Ihre Eltern sagten: Schade, dass du nicht jetzt geboren bist. In Freiheit, 1989. „Schade, dass du keine Victoria bist.“

Wie Dana Grigorcea durch Bukarest zog, so zieht sie durch ihre Seiten: staunend, fremdelnd, jede Veränderung abtastend. Man begleitet die Heimkehrerin einer Generation, über die es heißt, sie könne nicht ermessen, wie das gewesen sein muss. Rumänien, damals. Ein Leben im Kommunismus. „Ihr habt das nicht gekannt.“ Man taucht in die Vergangenheit einer Autorin, riecht die Hinterhöfe, wie sie sie als Mädchen gerochen haben muss, Lindenblütenduft überall; mit Augen, die Fassaden nach oben klettern. Hoch, höher, am besten zum Himmel.

„Eine Frau schaut stets zu den Baumkronen“, erinnert sich die Romanfigur als junges Mädchen gesagt zu haben – eine Freundin ermahnend, die lieber ihrem Schatten hinterherschaute. „Stets zu den Baumkronen“: Da spricht ein Mädchen, das seine Augen kontrolliert, wie es selbst kontrolliert wird. Eines, das weiß, wie es sich einzugliedern hat in eine Gesellschaft der Gleichheit – und sich nebenher, als Zahnarzttochter, zugleich einen Hauch von Boheme erhält.

Dass ihre Romanfigur ausgerechnet „Victoria“ heißt, zeugt von der Selbstironie, mit der Dana Grigorcea schreibt. Die fiktive Victoria ist ebenfalls zehn, als alle von der Wende sprechen, und sie ist alles andere als siegreich oder von belastenden Erinnerungen befreit. Victoria erfährt die Verbrechen des Regimes, der Kommunistischen Partei und des Geheimdienstes Securitate bloß indirekt: beiläufig, in Fetzen. Als Kind. Hier trifft sie auf den Genossen Inspektor, dort spaziert sie mit dem Oberst und seiner Dogge. Dass ihr einmal eine Frau in zerschlissenen Kleidern entgegenrennt, die von zwei Männern verfolgt wird, verunsichert sie zwar – aber was soll das schon bedeuten? Und wenn die Eltern sehr detailliert erfahren möchten, was Victoria beim Spielen den anderen erzählt; wenn bei Gartenpartys geflüstert wird: dann ist das eben so.

Vieles versteht Victoria erst Jahre später. Als sie mittlerweile Bankangestellte ist und, kaum dass sie wieder in Bukarest wohnt, nach einem Raubüberfall zwangsbeurlaubt und therapiert wird. Wie sie nun die Freunde von früher, die Nachbarn und ihre Familie besucht, mit ihrem Flavian im Aston Martin durch die Ruinen der sozialistischen Republik rauscht – das setzt zwar hohe Konzentration voraus – Wo sind wir jetzt? Wer spricht da gerade? –, hat dafür aber ein bisschen von allem: von Tragik und Komik, Dekadenz und Lässigkeit, Tiefe und Charme.

Eine untergegangene Welt

„Großzügigkeit“, sagt Dana Grigorcea, braucht sie zum Erzählen. Sie hat keine Lust auf Deutungshoheit; wenn man beim Lesen rätseln muss, wird man mit der Auflösung belohnt. Anfang zwanzig war sie, als sie aufhörte, ihre rumänischen Kurzgeschichten ins Deutsche zu übersetzen – und anfing, gleich auf Deutsch zu schreiben. Die „Biegsamkeit der Sprache“ hatte sie dazu gebracht, denn Rumänisch schien ihr noch zu starr, zu „antiquiert“, wie sie sagt. „Das ist die Sprache einer untergegangen Welt.“

Sie hat in Österreich studiert, als Filmdozentin gearbeitet, beim Kurier in Wien, bei der Deutschen Welle in Bonn und bei Arte in Straßburg. Bis sie als Journalistin irgendwann Gefahr lief, zu viel Literarisches hinzuzudichten. Überhaupt: „Die spannenden Geschichten“ fielen ihr eher anderswo ein „als bei der Recherche“.

Zuletzt immer dienstags, am Morgen: Dann hat sie ihre Kinder zum Reitunterricht gefahren, ist weitergefahren zu einem Café, „wie zu einem Liebhaber“, und hat dort ein paar Stunden mit ihrem zweiten Roman verbracht. Sie ist froh, sagt sie, dass sie jetzt so lebt. Weniger reist und rast. Dass Kinder einen veranlassen, „viel Unnützes wegzustreichen“.

Dana Grigorcea kann narzisstische Gesellschaften in einem Satz auseinandernehmen: „Facebook liest sich längst wie Linked In“, meint sie: Wie ein Portal zum Vernetzen also, zum Aufsteigen und Vorantreiben der Karriere – mit möglichst wenig menschlicher Regung. „Es muss aber auch entgleisen!“

Und sie kann den Bachmannpreis auseinandernehmen, ohne dass irgendeine Jury es ihr übel nehmen wird: „Da fallen die Namen wie bei der Börse.“ Der soll gewinnen. Die soll gewinnen. Oder, nee, nehmen wir doch lieber die.

Dass sie einen Preis gewonnen hat, trägt sie trotzdem durch den Alltag. Hebt sie und macht leicht. Und genau dafür, erklärt Dana Grigorcea – um sich bestimmte Zweifel zu nehmen: Ist das was Sinnstiftendes, was ich da mache, „Schreiben“? Gibt es ein Überleben in der Schweiz, jenseits des Angestelltenverhältnisses? Reicht das als Antwort, zu sagen: „Ich bin Schriftstellerin“, wenn mein Gegenüber hinterher fragt: „Ja, aber ich meinte doch: Was machst du wirklich?“ – genau dafür ist sie nach Klagenfurt.

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