Roman „Theodoros“ von Mircea Cărtărescu: Erzähle es, und lass es real werden
In Mircea Cărtărescus neuem Roman „Theodoros“ wird ein rumänischer Rabauke zum Kaiser von Äthiopien. Auch sonst ist in diesem Buch prinzipiell alles möglich.
Nicht alles in diesem Roman ist ausgedacht, so phantastisch oder phantasmagorisch die Welten auch scheinen mögen, die darin ausgemalt werden. Wiederholt fühlt man sich angeregt, die Lektüre zu unterbrechen, um ein Suchmaschinen-Orakel nach dem Realitätsgehalt verschiedener im Buch erwähnter historischer Daten oder Personen zu befragen und die eine oder andere unerwartete Bildungslücke zu schließen.
Dass es einst einen Kaiser der Vereinigten Staaten von Amerika gab, der in San Francisco lebte, eigene Geldnoten an sein Volk ausgab und als Berufsbezeichnung „Kaiser“ im Ausweis stehen hatte, gehört zu diesen überraschenden Tatsachen.
Auch dass Frankreich deswegen in Algerien einmarschierte und das Land kolonisierte, weil der osmanische Statthalter den französischen Konsul mit einem Fliegenwedel geschlagen hatte (im Roman geschieht das nur aus Versehen), ist ein sehr unwahrscheinlich klingender politischer Vorwand, aber so steht es auch in der Wikipedia.
Auch erfährt man beim Googeln, dass es wirklich noch im Jahr 1813 zu einer Pestepidemie in Bukarest kam, bei der 30.000 Menschen starben, und dass die Totengräber damals nicht selten noch lebende Kranke in der Erde verscharrten.
Surrealistische Übersteigerung
In Mircea Cărtărescus neuem Roman, „Theodoros“, wird allerdings nicht diese, sondern eine vermutlich fiktive Pestepidemie im Jahr 1833 geschildert und werden die Grausamkeiten, die 1813 vielleicht tatsächlich geschahen, stark ins Surrealistische übersteigert – einschließlich einer Schlacht zwischen wehrhaften Pestkranken und skrupellosen Leichenträgern.
Mircea Cărtărescu: „Theodoros“. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2024, 672 Seiten, 38 Euro
Diese und viele andere erstaunliche Geschichten sind eigentlich „nur“ narrativer Beifang in diesem eben auch deswegen ausgesprochen dickleibigen Roman, über dessen hauptsächliches Sujet der Autor selbst in einem kurzen Nachwort aufklärt: Tatsächlich existiere, schreibt Mircea Cărtărescu, der bereits seit Jahren als Nobelpreisfavorit gehandelt wird, ein historischer Brief an Königin Victoria von England, dessen Autor die kreative Hypothese aufstellte, dass Tewodoros II., Kaiser von Äthiopien von 1855 bis 1868, sein Leben einst in der rumänischen Walachei begonnen habe.
Zwar habe diese Annahme keine historische Grundlage, so Cărtărescu, aber seit er vor Jahrzehnten darüber gelesen habe, habe er den Wunsch gehabt, irgendwann einen pseudohistorischen, kontrafaktischen Roman über diesen Theodoros zu schreiben, „in dem das Unmögliche auf einer anderen Zeitschleife möglich wird“.
Diese Formulierung ist eine gute Zusammenfassung dessen, was Cărtărescus Schreiben generell ausmacht: vom Unmöglichen so zu erzählen, dass es im Moment des Erzählens real erscheint. Kraft geschriebener Sprache erschafft er neue mögliche Welten. Es wäre nicht falsch, das „magischen Realismus“ zu nennen, aber das Label wirkt angesichts der Vielschichtigkeit dieser Prosa, die paradoxerweise gleichzeitig maximal selbstreferenziell und unfassbar welthaltig erscheint, unangemessen billig.
Jugend zwischen Banditen
Die Hauptfigur von „Theodoros“ wird als Sohn einer griechischen Dienerin und eines rumänischen Handwerkers in der walachischen Provinz nahe Ghergani (eine reale, unweit von Bukarest gelegene Stadt) geboren und wächst trotz einer eigentlich behüteten Kindheit zu einem Tunichtgut heran.
Erste prägende Erfahrungen in verbrecherischen Umtrieben macht der Teenager, als er in Kontakt mit der Bande des berüchtigten Räuberhauptmanns Iancu Jianu kommt. Dieser aber ist in Wirklichkeit identisch mit dem Polizeipräsidenten von Bukarest und wurde von diesem aus reinem Machtkalkül erfunden – ein prägendes Beispiel für die Weltwirksamkeit gut gemachter Fiktion.
Als junger Mann macht Tudor/Theodoros Karriere als Pirat im Mittelmeer, gelangt nach Afrika, freundet sich mit einem jungen Äthiopier namens Kassa an, dessen Identität er übernimmt, macht in Schlachten von sich reden und wird schließlich zum Kaiser von Äthiopien. Trotz seiner grausamen Natur hängt er zeitlebens zärtlich an seiner fernen Mutter und hegt eine ewig unerfüllte Liebe zu einem Mädchen, das ihn nicht wiederliebt, da sie einem Dämon verfallen ist.
Das wäre in Kürzestfassung die Lebensgeschichte des Protagonisten, die so linear aber keineswegs im Roman verhandelt wird. In opulenten Abschweifungen wird diese unglaubliche Geschichte nach und nach zusammengesetzt, die chronologische Abfolge durchbrochen mit Vor- und Rückblenden und verflochten mit weiteren Erzählsträngen.
Zahlreiche religiöse und religionshistorische Anspielungen durchziehen das Buch, angefangen bei Theodoros’ Suche nach den Buchstaben des Gottesnamens S-A-V-A-O-T-H auf den zahllosen Inseln des griechischen Mittelmeers. Zitate aus dem heiligen Buch der äthiopisch-orthodoxen Kirche, dem Kebra Nagast, werden reichlich eingestreut, und breiten Raum nimmt die Vorgeschichte der Entwicklung des äthiopischen Christentums aus dem Judentum und der Abstammung ihrer Herrscherlinie von König Salomo ein.
Treffen mit der Königin von Saba
Eine ganze Handlungsebene spielt zu Lebzeiten Salomos und schildert dessen schicksalhaftes Zusammentreffen mit der legendären Königin von Saba: eine auch in Bezug auf Theodoros bedeutsame Erzählung, denn bevor Tewodoros den Thron (auch in unserer Wirklichkeit) bestieg, stammten alle äthiopischen Herrscher von Menelik I. ab.
Menelik aber war – so die Legende – der Sohn von Salomo und der Königin von Saba und soll einst die heilige Bundeslade aus Jerusalem geraubt und nach Äthiopien gebracht haben. Auch das wird von Cărtărescu erzählt, und obwohl es klingt, als habe er es erfunden, hat er es doch „nur“ dem Kebra Nagast entnommen und ausgeschmückt.
Zur quasimagischen Anmutung des Romans gehört auch die außergewöhnliche Erzählsituation. Erzählt wird, wenn es um Theodoros geht, in Du-Form; die erzählende Instanz wiederum ist ein noch selteneres Wir, dessen Identität lange rätselhaft bleibt.
Es darf wohl verraten werden, dass es sich um sieben Erzengel handelt, die, aus himmlischen Gefilden ihren Protagonisten beobachtend, die Handlung bei Bedarf erzählend steuern können und Theodoros einmal sogar vor dem Tod durch eine Gewehrkugel retten, indem sie eine Parallelhandlung initiieren, die sich auf eben dieser Kugel abspielt und dazu führt, dass deren Flugbahn abgelenkt wird.
Bombastisches Finale
Es ist ein besonders augenfälliges, explizit verbildlichtes Beispiel für eine der zahllosen Abschweifungen, an denen der Roman überreich ist. Wie um zu zeigen: Seht her, aus jedem noch so kleinen Detail kann ich (können „wir“) eine neue, in sich allein gültige Erzählung erwachsen lassen! Theoretisch könnte also dieses, oder jedes, Buch ebenso gut unendlich sein, denn wo sollte das je aufhören?
Doch aufhören wird sogar dieser Roman irgendwann, und das in einem fantasymäßig bombastischen Finale. Welches physische Ende Theodoros’ Leben nimmt – er schießt sich, als die Engländer seine Festung einnehmen, mit einer von Königin Victoria geschenkten Duellpistole in den Kopf –, haben wir übrigens von Anfang an gewusst, denn von hier aus wird sein gesamtes physisches Dasein erzählerisch entfaltet.
Theodoros’ metaphysisches Schicksal aber wird am Ende breit ausgeführt in einer Art Jüngstem Gericht, die Erzähl- und erzählte Ebene, Himmel, Erde und Hölle zusammenführt. Das solcherart in aberwitzige Höhen geschraubte Drama- und Pathoslevel fährt der Autor aber zügig wieder herunter, indem er als Schlussbild einen „greisen Witzbold“ mit altertümlicher Lesebrille präsentiert.
Dieser Witzbold ist Gott. Und das sollte wohl nicht nur als humoristisches Element verstanden werden, sondern auch als erzähltheoretisches Augenzwinkern, denn in dieser Figur sind Autor und Leser unlösbar verschmolzen. Und nicht zuletzt mag der kichernde, bebrillte Lesegott als ganz schlichte Rezeptionshilfe dienen: Lies dies und habe Spaß dabei!
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