Roman „Kleine Probleme“: Schöpfungsakte mit Ikea-Bett
Wenn auf der To-do-Liste „Du sollst dein Leben ändern“ steht. Nele Pollatschek hat eine Mischung aus Bekenntnis- und Schelmenroman geschrieben.
Haben Sie schon alle Neujahrsvorsätze abgearbeitet? Nein? Dann sollten Sie vielleicht mal anfangen, bevor es zu spät ist. Ein Lied davon singen kann Lars, pathologisch prokrastinierender „Held“ in Nele Pollatscheks Roman „Kleine Probleme“, der in der späten Mitte seines Lebens beschlossen hat, dieses Leben grundlegend zu ändern.
Und welche Zeit wäre dafür besser geeignet als die „Tage zwischen den Jahren, in denen das Alte schon zu Boden geröchelt ist und das Neue noch nicht zugeschlagen hat“, wie der theorieversierte Philosophieabbrecher Lars anspielungsreich formuliert. Eigentlich hatte der angehende Schriftsteller sich das ganz anders vorgestellt, als er und Johanna vor acht Jahren das Haus kauften und Lars seinen Job beim Radio kündigte, um endlich sein Lebenswerk – nichts Geringeres als „das beste Buch der Welt“ – schreiben zu können.
Das hat dann leider nicht so geklappt, und zwar womöglich weniger, weil Lars sich damit zu viel vorgenommen hätte, sondern weil es ihm so schwer fällt, irgend etwas „einfach mal zu machen“, wie Johanna ihn oft genug ermahnen muss.
Nele Pollatschek: „Kleine Probleme“. Galiani, Berlin 2023. 208 Seiten, 23 Euro
Und so steht (sitzt, liegt) er jetzt da, die Kinder sind aus dem Haus oder im Ausland, Johanna ist verreist, und Lars will endlich sein Leben aufräumen und alles erledigen, was sich in den letzten Monaten und Jahrzehnten so angesammelt hat: neben seinem Buch und „es gut machen“ auch Neujahrsklassiker wie putzen, Vater anrufen und mit dem Rauchen aufhören.
Gott der kleinen Dinge
Wie ein gestandener Gott der kleinen Dinge nimmt Lars sich dafür eine Woche Zeit – nur um die natürlich doch wieder zu vertrödeln. Und weil er dann am 31. Dezember auch noch verschläft, hat er am Ende – also am Anfang des Romans – noch einen geschlagenen halben Tag, um seine erdrückende Liste abzuarbeiten, bevor zur Silvesterparty alle zurück sein werden.
Es ist ein so überraschendes wie passendes Szenario, das Pollatschek für ihre Mischung aus Taugenichts- und Schelmenroman mit Anleihen bei Bekenntnisliteratur, Liebesdrama und Schöpfungsgeschichte gewählt hat.
Und es ist so wohltuend, angesichts der beständigen Neuerscheinungen aus den Genres Autofiktion, Kindheits- und Herkunftsgeschichte, Politische Katastrophen oder andere Großkonflikte einmal wieder eine so humorige, selbstironische (Nicht-)Ich-Erzählung über vermeintlich „kleine Probleme“ zu lesen (die dann natürlich umso überzeugender die wirklich großen Probleme des Lebens angeht) – vor allem wenn sie so hervorragend geschrieben ist wie diese.
Es ist eine wahre Lust, der 1988 geborenen Autorin mit ihrem 49-jährigen Helden durch die Falltüren des Alltags, der Kunst und Lebenskunst zu folgen.
„Pleumel“ und „Plodden“
Schon der erste Punkt auf der epischen To-do-Liste – ein Ikea-Bett für die Tochter aufbauen – gerät zum veritablen Schöpfungsakt: Nachdem Lars festgestellt hat, dass lange Ziffernfolgen nicht zum menschenwürdigen Unterscheiden von zwanzig Arten von Schrauben geeignet sind, erfindet er kurzerhand für sämtliche Einzelteile eigene Namen.
Und dann werden ihm die „Pleumel“ und „Plodden“, die „Flonze“ und „Wörle“ sowie ihr ingeniöses Zusammenspiel plötzlich zum Sinnbild seines neuen Lebens, ja des Menschseins überhaupt: „Vielleicht ist das die Kunst, dachte ich, einen Knülp zu erfinden, wenn eine Schraube genügen würde, vielleicht ist es das, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“
Ähnlich spirituell und philosophisch – und kein bisschen weniger witzig – wird dann natürlich das Putzen, das erst einmal marxistisch und chaostheoretisch im Kopf durchdekliniert werden muss, bevor endlich der „Wischer vom Stiel auf den Mopp“ gestellt werden kann. Denn selbstverständlich kann es wirkliche Ordnung (in der „alles an seinem Platz ist“, so Johanna) in einem Haus gar nicht geben: „Aufräumen bedeutet im Grunde, einen Zauberwürfel aus abertausend Steinen lösen zu wollen, und das ist doch absoluter Irrsinn. “
So wird dann auch die Steuererklärung nur zur Veranschaulichung der Unendlichkeit, und die mühevolle Belegsammlung dient Lars als Aufhänger, seine Lebensgeschichten zu erzählen: von seinem politisch perfekt korrekten Sohn und seiner Margret Thatcher verehrenden Tochter, von seinem (ein „bisschen“) türkischen besten Freund und Agenten – und von seiner schließlich nur scheinbar unendlich duldsamen Johanna.
Der glückliche Mensch
Da wir uns am Ende aber mit Camus sogar den sisyphoshaften „Steuerzahler als glücklichen Menschen vorstellen“ dürfen, kriegt es Lars dann auf wundersame Weise doch irgendwie hin und wird beim Nudelsalatmachen zu einer Art MacGyver nicht nur der veganen Improvisationsküche, sondern eines hoffentlich irgendwann doch noch gelingenden – oder zumindest besser scheiternden – Lebens (und ich schwöre, ich bin auf die Metapher gekommen, lange bevor der findige Fernsehdetektiv im Buch tatsächlich erwähnt wird – das Vorbild war schon deutlich zu erkennen).
Nele Pollatschek erzählt diese so kreischend komischen wie tragisch tiefsinnigen Episoden in einer passagenweise atemlosen, alliterationssatten Suada, die freilich immer wieder innehält, um ihre höheren Weisheiten zur Geltung zu bringen und gewissermaßen das Prokrastinieren als prekäre Conditio humana zu bewahrheiten.
Ein besonderes Erlebnis ist auch die von der Autorin eingelesene Hörbuchfassung. Virtuos parliert Pollatschek sich durch ihre Paraphrasenpreziosen, tänzelt durch die Tonlagen und Reflexionsschleifen und bringt dadurch ihren brillanten Stil richtig zum Strahlen.
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