Roman „Archiv der verlorenen Kinder“: Eine Geschichte in sieben Schachteln
Die Mexikanerin Valeria Luiselli wurde mit ihrem Roman für den Booker Prize nominiert. Darin erzählt sie von Kindern, die aus Mittelamerika flüchten.
„Bei jeder Nachricht über die Lage an der Grenze drehe ich lauter und wir hören zu: Hunderte Kinder kommen jeden Tag allein an, Tausende jede Woche. Die Ansager sprechen von einer Einwanderungskrise.“
In Valeria Luisellis jüngstem Roman „Archiv der verlorenen Kinder“ bricht eine mexikanische Radiojournalistin im Sommer mit ihrem Mann, einem Akustemologen in New York, auf, um in einem Volvo-Kombi Richtung Süden zu reisen. Auf der Rückband des Autos mit dabei sein zehnjähriger Sohn und ihre fünfjährige Tochter. Mal aufmerksam, mal schläfrig lauschen diese den Hörbüchern, Playlists oder den Geschichten der Erwachsenen und entwickeln daraus ihre eigenen Fantasien.
Die moderne Patchworkfamilie durchquert die US-amerikanische Provinz mit ihren kurios anmutenden Motels, traditionellen Dinern und abweisenden Kleinstädten. Im Autoradio verfolgen sie die Meldungen über Kinder- und Jugendliche aus Honduras, El Salvador und Guatemala, die unbegleitet vor Bandenkriminalität und Armut Richtung Norden fliehen.
Vor dem Hintergrund dieser humanitären Tragödie entwickelt Valeria Luiselli ihren vielschichtigen Roman mit deutlich biografischen Elementen nicht als eine absolute Fiktion, sondern als eine materialreiche Collage aus verschiedenen Erzählperspektiven. Mit dieser Montagetechnik gelingt der Autorin eine spannende Dramaturgie. Allerdings wirken die von ihr angeführten Quellen und literarischen Bezüge in manchen Momenten etwas konstruiert und zu abgesichert.
„Alien Resident“
2015 hatte die 1983 in Mexiko City geborene Schriftstellerin begonnen, am New Yorker Einwanderungsgericht als ehrenamtliche Übersetzerin Flüchtlingskinder aus Zentralamerika für die Anhörungen zu befragen. In „Tell me how it ends. An essay in 40 questions“ (2017) verbindet sie diese bedrückenden Berichte mit ihren eigenen Erfahrungen als ein „alien resident“ in den USA zu einem schmalen, bewegenden Band über Herkunft und Identität. Einiges davon ist nun in „Archiv der verlorenen Kinder“ wieder eingeflossen.
Valeria Luiselli: „Archiv der verlorenen Kinder“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 432 Seiten, gebunden, 25 Euro
Als die in New York lebende Schriftstellerin 2014 auf die Bewilligung ihrer Greencard wartete, hatte sie mit ihrem Partner, dessen Sohn und ihrer Tochter eine ganz ähnliche Autoreise in den Süden der USA unternommen. Dabei waren einige unscharfe Polaroid-Fotografien von den beiden Kindern, von Landschaften, Hotel-Zimmern und zufälligen Begegnungen entstanden, die nun im Buch als Teil der Erzählung wieder auftauchen.
Luisellis Roman gliedert sich in 7 „Schachteln“, die die verschiedenen Erzählstränge strukturieren und in Beziehung zueinander setzen. Im Buch verstauen der Mann und die Frau zu Beginn ihres Roadtrips die notwendigen Arbeitsmaterialien für ihre geplanten Vorhaben – Notizbücher, Broschüren, Landkarten, Skizzen, Literatur und Tontechnik – in den Archivschachteln im Kofferraum.
Internierungslager für Kinder
Der Mann will sein Recherche-Stipendium nutzen, um in Arizona, in die Apacheria in den Chiricahua Mountains, sein Tonprojekt über Häuptling Cochise, Geronimo und die letzten freien Stämme Amerikas zu verfolgen. Die Frau und Ich-Erzählerin ahnt, dass sie am Ziel dieser Familienreise getrennte Wege gehen werden. Verhalten verfolgt sie die Idee einer Radiodokumentation in Texas, wo sich die meisten Internierungslager für die Kinder ohne Papiere befinden.
Gekonnt wechselt Luiselli im zweiten Teil des Romans die Erzählperspektive. Nun schildert der Junge in der Wiederholung die Ereignisse und Stimmungslagen aus seiner Sicht. Aufmerksam folgt er den Geschichten seines Vaters über die Chiricahua, genauso wie den bei der Stiefmutter eintreffenden Nachrichten über die vermissten Töchter einer Bekannten.
Zusätzlich werden die „Elegien der verlorenen Kinder“, eine Lektüre aus ihrer Archivschachtel, für ihn zur packenden Gute-Nacht-Geschichte. Immer stärker zieht die düstere Erzählung den Zehnjährigen in seinen Bann. Eines Morgens dann macht er sich allein mit seiner kleinen Schwester auf den weiten Weg in den Echo Canyon – zu den verlorenen Kindern.
Valeria Luiselli, die in Südkorea, Südafrika und Indien zweisprachig aufwuchs, hat nach einigen erfolgreichen Werken in Spanisch die Sprache gewechselt. „Archiv der verlorenen Kinder“ („Lost Children Archive“) ist ihr erster in Englisch geschriebener Roman. Mit ihm gelangte erstmals der Titel eines mexikanischen Autors auf die Longlist des renommierten britischen Booker Prize.
Im Vorwort zu der nun vorliegenden deutschen Übersetzung urteilt der Schriftsteller Daniel Kehlmann anerkennend: „In vielerlei Hinsicht ist ‚Archiv der verlorenen Kinder‘ also ein Buch, das sich an die Grenzen wagt: die Grenze zweier Länder, die Grenze zwischen zwei Sprachen, die Grenze zwischen ‚reiner‘ Kunst und politischem Aktivismus.“
Das Leid anderer in Kunst umsetzen
Dabei experimentiert die mexikanische Schriftstellerin mit einem Mix aus verschiedenen Textgattungen und Inhalten. Genauso thematisiert sie im Roman jedoch auch ihre Zweifel gegenüber dieser Art von Grenzüberschreitung und lässt ihre Hauptprotagonistin politische, ästhetische und ethische Bedenken abwägen: „Wie kann eine Radiodokumentation dazu beitragen, dass man mehr Kindern ohne Papiere Asyl gewährt?“ Aber: „Andererseits, warum sollte ein Tonfeature oder eine andere erzählende Form ein Mittel zu einem bestimmten Zweck sein?“ Und: „Wie komme ich überhaupt auf die Idee, dass ich das Leiden anderer in Kunst umsetzen kann oder sollte?“
Auch wenn ihr Roman zuweilen überambitioniert anmuten mag, ist Valeria Luiselli mit „Archiv der verlorenen Kinder“ eine kluge literarische Auseinandersetzung gelungen, die eine Vielzahl drängender Fragen mit dem Schicksal der aus Mittelamerika flüchtenden Kinder und Jugendlichen überzeugend verknüpft.
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