Antiziganismus in Schleswig-Holstein: Roma und Sinti werden noch analog beleidigt
Großes Dunkelfeld: Die neue Meldestelle für Antiziganismus Schleswig-Holstein hat ihren ersten Jahresbericht für 2024 veröffentlicht.

Unter den gemeldeten Vorfällen sind zwei schwere körperliche Angriffe, beide stehen im Zusammenhang mit einem Sinti-Jungen, der an einer Schule in Schleswig-Holstein von Mitschüler:innen gemobbt wird. Im Bericht der MIA bleiben nicht nur Betroffene, sondern auch Orte und Institutionen anonym, um Beteiligte zu schützen.
Laut dem Bericht wurde der Junge eines Tages nach dem Unterricht von mehreren männlichen Schülern festgehalten, an einer Bank fixiert, geschlagen und dabei gefilmt. Zudem seien Verwandte des betroffenen Jungen angegriffen worden, als sie die Eltern der Täter später konfrontieren wollten. Einem der Sinti sei dabei der Fuß gebrochen worden, ein anderer sei mit einem Messer bedroht und verletzt worden. Die Betroffenen meldeten die Angriffe der Polizei, heißt es im Bericht.
Nicht alle Fälle aus dem Jahresbericht sind derart drastisch. Die Meldestelle zählt nicht nur strafrechtlich relevante Vorfälle. Sie bezieht auch nicht strafbare Diskriminierungen ein. Unter den gemeldeten antiziganistischen Vorfällen waren „verbale Stereotypisierungen“ mit 29 Fällen am häufigsten, gefolgt von 26 Fällen von Diskriminierungen, vier körperlichen Angriffen sowie zwei Sachbeschädigungen.
Mahnmal in Flensburg geschändet
Von allen in Schleswig-Holstein gemeldeten Fällen fanden etwa 68 Prozent „face to face“ statt, also im direkten Kontakt mit den betroffenen Menschen. Weitere rund 21 Prozent der Vorfälle ereigneten sich online. Einige Fälle richteten sich nicht gegen konkrete Personen.
Dazu zählt auch die Schändung des erst ein Jahr zuvor errichteten Mahnmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti in Flensburg im Mai 2024: Unbekannte hatten dabei eine Metallstele aus dem Boden gerissen und einige Meter entfernt liegen gelassen. Die Polizei geht von einem politischen Motiv aus, konnte die Täter:innen bis heute aber nicht ermitteln.
Der Angriff auf das Mahnmal in Flensburg ist einer der wenigen gemeldeten Fälle, die größere mediale Aufmerksamkeit erfahren haben. Bei den meisten ist das anders.
Antiziganismus wird oft nicht erkannt
Ein Beispiel ist der Fall einer jungen Mutter, der von der Großmutter eines Kindes, mit dem ihre Kinder zusammen spielten, vorgeworfen wurde, ihre Kinder würden Schulbrote klauen. Dabei habe die Großmutter das Z-Wort verwendet.
Die MIA SH ordnet diesen Fall als „bürgerlichen Antiziganismus“ ein. Dabei werden Menschen aufgrund ihres vermeintlich gesellschaftlich abweichenden Verhaltens diskriminiert. Diese Form des Antiziganismus sei die häufigste unter den gemeldeten Fällen und werde oft nicht erkannt.
Die Autor:innen gehen bei verschiedenen Formen antiziganistischer Vorfälle von einer großen Dunkelziffer aus. Das liege auch daran, dass die Meldestelle in Schleswig-Holstein erst im Juni 2024 ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie ist eine von sechs regionalen Stellen der bundesweiten Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA). Diese wurde 2022 auf Empfehlung eines Expertenrats des Bundesinnenministeriums eingerichtet.
Direkte Kontakte zu Betroffenen fehlen
Die Stelle definiert Antiziganismus als „gesellschaftlich tradierte Wahrnehmung von und den Umgang mit Menschen oder sozialen Gruppen, die als ‚Z…‘ konstruiert, stigmatisiert und verfolgt wurden und werden“. Auch die Bundesregierung bezieht sich auf diese Definition.
Meldungen nimmt die MIA SH sowohl von Betroffenen als auch von Zeug:innen an. Dies ist online auf Deutsch, Romanes, Serbisch und Russisch möglich. Die Stelle vermittelt auch an Beratungseinrichtungen. Noch habe die junge Meldestelle zu wenig Kontakte zu direkt Betroffenen, heißt es im Jahresbericht. Viele der Meldungen seien über Personen eingegangen, die bereits mit der Meldestelle zusammenarbeiten und zum Teil selbst aus der Beratungsarbeit mit Roma und Sinti kommen. So sei auch zu erklären, dass über die Hälfte der gemeldeten Fälle aus dem Bildungssektor stammen.
Zukünftig wolle die MIA deshalb vor allem das „Vertrauen der Zielgruppen“ gewinnen. Insbesondere durch ukrainisches und russisches Dolmetschen sollen auch geflüchtete Sinti und Roma erreicht werden. Zentral sei die Aufklärungsarbeit: „Personen müssen erkennen, was Antiziganismus ist.“
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