Rituale politischer Berichterstattung: Neuwahlen? Laaaaaangweilig!!!
Das vorzeitige Regierungsende wird permanent prophezeit – dabei tritt es fast nie ein. Unser Autor kann es langsam nicht mehr hören.
D er gemeine Haussperling findet in Deutschland immer weniger Lebensräume, in Berlin aber geht es ihm prächtig. Auch Häuser gibt es in der Hauptstadt eine Menge, und damit beste Voraussetzungen dafür, dass Spatzen Dinge von Dächern pfeifen können.
Etwa, dass die Bundesregierung kurz vorm Auseinanderbrechen steht. „Kippt die Ampel?“, stand auf der Titelseite der FAS, „Der Absturz der Grünen, ein hilfloser Kanzler und die Frage: Wie lange noch?“ auf der des Focus, „Drei Wochen haben sie noch […], sonst stellt sich für den Kanzler die Vertrauensfrage“, titelte die Zeit und „Mit dem Haushaltsstreit steuert die Ampel auf Neuwahlen im Herbst zu“ schrieben auch wir bei der taz.
Der Auslöser dafür ist das Ergebnis der Europawahl, das die Fliehkräfte innerhalb der fragilen Dreierkonstellation noch weiter verstärkt. Dazu kommt die Uneinigkeit bei der Verteilung von vielen Haushaltsmilliarden, die zum Teil gar nicht existieren.
Nun hat es Neuwahlen vor Ende der regulären Legislaturperiode in 75 Jahren BRD-Geschichte genau vier Mal gegeben: 1972, 1983, aufgrund der Wiedervereinigung 1990 und dann 2005. Ein vorzeitiges Koalitionsende wäre also etwas Besonderes, etwas Historisches. Solche Schlagzeilen sollten aufwühlen, elektrisieren, uns alle, und mich als Journalisten gleich doppelt.
Wer dauernd schreit, wird nicht gehört
Tun sie aber nicht. Das einzige starke Gefühl, das sie in mir auslösen ist: Langeweile. Denn irgendwie habe ich das mit den Neuwahlen ein wenig zu oft gehört. Nur ein paar Beispiele aus den letzten Monaten: „Über kurz oder lang hieße das eben wohl doch: Neuwahl, auch wenn die Ampel die nicht anstrebt.“ (Die Zeit, 20. 11. 2023)/ „Die Ampel wirkt wie ein Projekt in Auflösung“ (SZ, 8. 12. 2023) / „Knipst der Osten die Ampel aus?“ (dpa, 27. 3. 2024).
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Auch in der letzten Merkel-Legislatur lief das schon so: „Zerbricht die Große Koalition am Thema Asyl?“ (Spiegel Online, 27. 6. 2018) / „Die große Koalition torkelt noch einen Sommer; dann ist Schluss.“ (SZ, 2. 6. 2019) / „Groko am Ende – wie ginge es weiter? Drei Optionen bleiben, falls die SPD die Regierung verlässt.“ (Die Zeit, 4. 12. 2019). Obendrauf kommt noch das Geplärre der Oppositionsparteien, die inzwischen einfach fast jede Woche nach Neuwahlen rufen.
Die Unwucht im Verhältnis von Neuwahlgerüchten zu tatsächlichen Neuwahlen hat auch mit dem Berufsbild des Hauptstadtjournalisten zu tun. Der berichtet permanent über das politische Geschehen in Berlin. Weil es allerdings auf Dauer etwas langweilig (und aktuell auch ziemlich deprimierend) ist, bloß das zu beschreiben, was ist, wird zusätzlich gern über das geschrieben, was sein könnte. Gehört grundsätzlich ja auch zum Berufsbild, in Form von Kommentaren und Analysen.
Trifft man dann die Politiker:innen und Kolleg:innen ständig vor und hinter verschlossenen Türen und abends noch bei irgendeinem Empfang, dann kennt man alle Gerüchte, ventiliert sie im kleinen Kreis, und irgendwann will das alles mal raus – die Personalspekulationen, die Machtkämpfe, die Koalitionsoptionen. Es ist ein wenig Macchiavelli, ein wenig wie in der Sportberichterstattung und es geht im besten Fall: um alles.
Ein bisschen Drama klickt sich besser
Ein bisschen Drama und Zuspitzung klickt und verkauft sich dabei umso besser, mit irgendetwas muss man aus den 37 verschiedenen täglichen Newslettern und Morgen-Briefings aus dem politischen Berlin schließlich auch herausstechen. Und seien Sie, liebe Lesende, mal ehrlich, was spannender klingt: Details aus der Ausschussarbeit oder Neues zum Ampelkrach und zur Frage, ob Merz „Kanzler kann“?
Bis zum 3. Juli wollen sich SPD, FDP und Grüne auf einen Haushalt einigen. Falls das nicht klappt, oder anschließend die Fraktionen und die Partei-Basen ausreichend querschießen, könnte die Regierung tatsächlich zerbrechen. Diesmal wirklich!
Ob das dann meinen Respekt vor den politischen Berichterstatter:innen in dieser Frage wiederherstellt? Na ja – sie sind da halt ein wenig wie ich, wenn ich ein Fußball-EM-Spiel schaue. Da sage ich auch bei 10 bis 15 Angriffen und Flanken: „Uh, der ist jetzt drin!“ Aber wenn es dann mal stimmt, dann findet meine Hellsicht irgendwie niemand bemerkenswert. Michael Brake
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