Restaurant im City-Ikea: Die Agora unserer Zeit
Das Restaurant im Ikea in Hamburg-Altona ist der neue Treffpunkt für Anwohner und Besucher des Stadtteils. Es ist ein Ort, der Sicherheit vermittelt.
HAMBURG taz | Stadtbewohner sind Menschen, die viel aneinander vorbeilaufen und wenig voneinander wissen. Ihr Bedürfnis, das zu ändern, ist groß: Sie wollen wissen, wer die anderen sind, was sie denken und womit sie ihr Geld verdienen. Sie wollen wissen, wo sie selbst stehen in dieser Gesellschaft, die ihre Stadt ausmacht. Deshalb braucht die Stadt Orte, an denen sich die Menschen treffen können, und zwar möglichst zwanglos und mit etwas Zeit.
In der griechischen Polis, der Vorläuferin der abendländischen Stadt, gab es für diesen Zweck einen zentral gelegenen Markt- und Versammlungsplatz namens Agora. Die Agora machte aus den Stadtbewohnern eine Gemeinschaft, die im Lauf der Zeit lernte, selbst über ihre Geschicke zu entscheiden. Für die Entwicklung der Demokratie war die Agora eine treibende Kraft.
Heutzutage braucht die Demokratie keine Agora mehr, um zu funktionieren. Die Idee eines offenen Treffpunkts der Stadtgesellschaft aber gibt es nach wie vor: Die SPD hat dafür in den 1970er-Jahren die Bürgerhäuser erfunden, die allerdings in der Regel zu spröde sind, um als Agora zu funktionieren.
Wie eine moderne, funktionierende Agora aussieht, das hat Ikea in der Großen Bergstraße in Hamburg-Altona vorgemacht: Dort gibt es seit Juli die deutschlandweit erste Ikea-Filiale in Innenstadtlage. Das Restaurant des City-Ikea ist für den Stadtteil zur Agora geworden.
Der City-Ikea in der Großen Bergstraße ist die erste Fußgängerzonen-Filiale in Deutschland.
Verkauft wird im City-Ikea auf drei Etagen das übliche Sortiment.
Besucht wird die City-Filiale laut Ikea von zwischen 8.000 und 14.000 Menschen pro Tag.
Im Vergleich zu anderen Filialen sind die Besucherzahlen leicht überdurchschnittlich, die Ausgaben pro Besucher dagegen leicht unterdurchschnittlich.
Stark umstritten war die Frage, ob Ikea eine Genehmigung für die Ansiedlung in Altona bekommen sollte. Kritiker befürchteten einen Verkehrskollaps und eine rasante Steigerung der Mietpreise vor Ort. Im Januar 2010 stimmten bei einem ebenfalls umstrittenen Bürgerentscheid 77 Prozent der Bürger des Bezirks Altona für den Bau des Einrichtungshauses.
Das Restaurant befindet sich im ersten Stock und ist zunächst vor allem groß und großzügig eingerichtet. Der Selbstbedienungsbereich und die Sitzbereiche gehen nahtlos ineinander über und die Wand zur Großen Bergstraße ist voll verglast, was den Eindruck der Größe und Offenheit des Restaurants verstärkt.
In der Mitte des Restaurants steht wie ein öffentlicher Brunnen eine Zapfstation für Softdrinks und Wasser. Ein leeres Glas für die alkoholfreien Getränke kostet einen Euro und kann beliebig oft aufgefüllt werden. Im Selbstbedienungsbereich gibt es ab 8 Uhr morgens warme und kalte Gerichte, es gibt Frühstück, Mittagstisch, Snacks, Kuchen und Desserts zu niedrigen Preisen. Egal, wann die Gäste kommen, sie können sich hier immer der Tageszeit entsprechend verpflegen.
Besucht wird das Ikea-Restaurant nicht nur von Kunden, sondern von Leuten, die im Stadtteil wohnen. An einem durchschnittlichen Werktag zeigt sich ein breiter Querschnitt der Altonaer Bevölkerung: Es kommen junge Mütter mit Kinderwagen, türkische Omas, Schüler, Business-Leute, Hipster und mittelalte Ehepaare mit modischer Kleidung.
Das Restaurant wirkt auf den ersten Blick wie die Realisierung einer Utopie: Eine Stadtgesellschaft trifft sich in einem großzügigen Ambiente, jeder hat Platz, niemand wird ausgeschlossen, an alle wird gedacht. Für die Babys gibt es einen Wickelraum und für die Alten gibt es Rollatoren, auf denen sich die Tabletts aus dem Selbstbedienungsbereich transportieren lassen. Viele der Besucher bringen Zeit mit. Sie sind nicht nur zum Essen gekommen.
Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Offenheit dieser Stadtgesellschaft auf eine subtile Art eingeschränkt ist. Ikea definiert über die Möblierung der Sitzflächen vier Bereiche: Es gibt einen Bereich mit Bartischen, einen mit konventionellen Sitzgruppen, einen mit bunten runden Tischen und einen mit Lounge-Sesseln.
An einem durchschnittlichen Werktag setzen sich die Hipster und die Business-Leute an die Bartische, die Großmütter an die Sitzgruppen, die Mütter an die bunten runden Tische und die Ehepaare in die Lounge-Sessel. Die Hipster nutzen die Aussicht auf die Große Bergstraße, die Business-Leute führen ihre Geschäfte weiter, die Omas essen Kuchen und bei den runden bunten Tischen gibt es Spielkonsolen für die Kinder.
Niemand sagt den Besuchern, wo sie sich hinsetzen sollen, es ist lediglich die Art der Möbel, die die Aufteilung der Besucher steuert: Jeder geht automatisch da hin, wo ihm Ikea seinen Platz zugedacht hat. Das Restaurant ist nur in der Theorie ein sozial durchlässiger Ort, in der Praxis ist er es nicht. Die Besucher scheinen das zu schätzen: Sie bleiben unter ihresgleichen und sind zugleich öffentlich.
Die Idee von Demokratie, für die Ikea steht, ist nicht die der sozialen Durchlässigkeit. Sie ist die, dass jeder in der Gesellschaft seinen Platz haben sollte. Es ist ein im Kern konservatives Gesellschaftskonzept, aber auch eines, das Sicherheit gibt: Hier wird niemand ausgeschlossen, hier ist Platz für alle.
Ikea schafft es mit seiner Agora-Variante, nicht nur die eigenen Möbel zu präsentieren, sondern sie emotional aufzuladen. Einen Stuhl, der einem einen Platz in der Gesellschaft sichert, will man gern mit nach Hause nehmen. Zumal in Zeiten, in denen das Dazugehören immer schwieriger wird: Wer heutzutage in Altona wohnen möchte, muss viel Geld mitbringen, um eine Wohnung bezahlen zu können.
Die Ansiedlung der City-Filiale macht die Große Bergstraße zum Boulevard und reißt die Mieten in die Höhe. Zugleich finden verunsicherte Menschen bei Ikea einen Platz, der sich sicher anfühlt und den sie bezahlen können.
Ikea hat mit seiner City-Variante ein Problem verschärft und verkauft zugleich eine Lösung dafür. Die Geschäftsstrategie ist perfide – und genial.
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