„Weiteres Nicht-Handeln ist keine Option“

Viele jüdische Zuwanderer leben in Armut. FDP, Linke und Grüne fordern rentenrechtliche Gleichstellung mit Spätaussiedlern. Die Bundesregierung will einen Härtefallfonds

Einwanderer aus der UdSSR 1991 in der Beratungsstelle für jüdische Einwanderer in Berlin-Mitte Foto: Rieth/ullstein bild

Aus Berlin Frederik Schindler

Die Fraktionen der FDP, Linken und Grünen fordern die Verbesserung der Alterssicherung von jüdischen Kontingentflüchtlingen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dafür soll die Gruppe rentenrechtlich mit den Spätaussiedlern gleichgestellt werden. Ein entsprechender Antrag der Fraktionen wird am Donnerstag im Bundestag behandelt.

Seit 1991 hat die Bundesrepublik über 200.000 jüdische Zuwanderer aufgenommen. Viele von ihnen sind heute von Altersarmut betroffen. Da es keine ­Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland, Russland und den meisten anderen postsowjetischen Staaten gibt, werden Rentenansprüche der jüdischen Zuwanderer vor der Einwanderung nach Deutschland nicht anerkannt. Dies bedeutet eine rentenrechtliche Schlechterstellung zu den Spätaussiedlern, deren Sozialversicherungsansprüche aus den Herkunftsstaaten bei der Rentenberechnung in Deutschland berücksichtigt werden.

Die Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP), Petra Pau (Linke) und Claudia Roth (Grüne) stellten ihren Antrag am Mittwoch gemeinsam in der Bundespressekonferenz in Berlin vor. „Die Aufnahme in Deutschland darf keine Stunde null für diese Menschen bedeuten“, forderte Roth. „Es ist ein großes Glück, dass die jüdische Zuwanderung geschehen ist. Wer willkommen heißt, trägt Verantwortung.“ Pau kritisierte, auch in Richtung ihrer Mitstreiter: „Über ein Vierteljahrhundert haben es alle Bundesregierungen nicht geschafft, eine entsprechende Maßnahme zu ergreifen.“ Das Thema vertrage jedoch „keinen parteipolitischen Hickhack, deshalb sitzen wir hier als Bundestagsvizepräsidenten“.

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zwar des Themas angenommen, bislang allerdings nicht gehandelt. Dort wird „eine Fondslösung“ für Härtefälle in der Grundsicherung versprochen, die auch für die Gruppen der Spätaussiedler und jüdischen Kontingentflüchtlinge geprüft werden soll. Dass bislang nichts geschehen ist, erklärt Kubicki mit „gewissen Vorbehalten gerade bei der CSU“. Dort gebe es „ein mentales Problem, Nicht-Deutsche mit Deutschen gleichzustellen“.

Der rentenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Ralf Kapschack, hält das Rentenrecht in diesem Fall für das falsche Instrument. „Das würde nicht nur Ungerechtigkeiten an anderer Stelle schaffen. Es wäre auch sachlich falsch“, sagte er zur taz. Kap­schack sprach sich für den im Koalitionsvertrag vereinbarten Härtefallfonds aus.

Über die Frage, ob dieser Fonds die beste Lösung für die Alterssicherung der jüdischen Zuwanderer ist, besteht in den antragstellenden Fraktionen Uneinigkeit. Die FDP präferiert diesen Fonds, die Linke präferiert eine Änderung im Fremdrentengesetz zur Gleichstellung mit Spätaussiedlern, die Grünen präferieren den Abschluss von Sozialversicherungsabkommen mit den betroffenen Staaten, um einen rückwirkenden Ausgleich über die Alterssicherung zu erreichen. „Nur weiteres Nicht-Handeln sollte keine Option sein“, heißt es im Antrag.

Genaue Zahlen, wie viele Betroffene berechtigt wären oder wie alt diese sind, gibt es nicht. Die Fraktionen gehen aber davon aus, dass der Bundeshaushalt durch entsprechende Erhöhungen nur minimal belastet würde. Die Maßnahmen sollen „schnellstmöglich“, also noch in diesem Jahr, ergriffen werden, fordern FDP, Linke und Grüne.

Bereits im April 2018 hatten die von den Grünen-Politikern Volker Beck und Sergey Lagodinsky sowie dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik ins Leben gerufene Initiative „Zedek“ die Bundesregierung zur Gleichstellung jüdischer Zuwanderer mit Spätaussiedlern aufgefordert.

„Wer willkommen heißt, trägt Verantwortung“

Claudia Roth, Grüne

„Es gibt keinen rationalen, politisch zu rechtfertigenden Grund, zwischen den beiden Gruppen zu unterscheiden“, sagte Volker Beck zur taz. „Deutschland nahm beide aufgrund der besonderen Verantwortung aus der Geschichte auf. Aschkenasische Juden gehören nicht weniger zu Deutschland als Russlanddeutsche.“

Der Bundesrat forderte bereits am vergangenen Freitag die Überprüfung der rentenrechtlichen Regelungen beider Gruppen. Das Bundesarbeitsministerium teilte der taz mit, diese Entschließung „wie üblich sorgfältig zu prüfen“. Zurzeit befasse sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit den Möglichkeiten des im Koalitionsvertrag vereinbarten Härtefallfonds. In einem weiteren Schritt soll dieser Fonds für die Gruppen der Spätaussiedler und der jüdischen Kontingentflüchtlinge geprüft werden.

Die Bundestagsdebatte am Donnerstag wird vorerst keine Fortschritte bringen: Hier wird zunächst lediglich der Verweis in den Ausschuss für Arbeit und Soziales beschlossen.

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