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Wird die Zukunft auf dem Land entschieden?

Die Ausstellung „Countryside, The Future“ von Rem Koolhaas im Guggenheim-Museum New York stellt Fragen nach dem Leben im Ruralen

Die Rotunde des Museums­inneren nutzt Koolhaas als „Storytelling Machine“ Foto: David Heald/Solomon R. Guggenheim Foundation

Von Verena Harzer

Da stehen sie, diese meterhohen Wände der High Gallery des Guggenheim-Museums in New York. Wände voll mit Fragen. Eng beschrieben. Kaum zu lesen. Es müssen Hunderte sein. Daneben steht der holländische Stararchitekt Rem Koolhaas. Auch er könnte jetzt Teil dieser Wand sein. Eng beschrieben mit Hunderten von Fragen. Und ohne Antworten. Es würde ihm ja an sich leichtfallen, Geschichten zu Ende zu erzählen und Themen zu definieren, sagt er. Und gibt dann freimütig zu: In dieser Ausstellung „konnte ich die Erzählung nicht zu Ende bringen“.

Ein schlichter Satz nur. Aber er kann das Drama dieser Ausstellung kaum verbergen. Das New Yorker Guggenheim-Museum hat seine Pforten ganz weit aufgemacht für Koolhaas und Samir Bantal, der Direktor von AMO, dem Thinktank des von Koolhaas 1975 mitbegründeten Architekturbüro Office for Metropolitan Architecture. Zehn Jahre haben sie recherchiert und recherchieren lassen. Die Ergebnisse zu „Countryside, The Future“ füllen jetzt die ikonische Haupthalle des Guggenheim-Museums mit der kreiselnden Rampe bis unters Dach. Es ist ein monumentales Werk. Dutzende Mitarbeiter und kooperierende Universitäten weltweit haben daran mitgewirkt. Die Ausstellungsmacher haben sich an nichts weniger als den Versuch einer Neudefinition dessen gemacht, wo die Zukunft in der Architektur liegen kann. Nein, die Zukunft der Menschheit.

Aber nicht mal Rem Koolhaas scheint zu wissen, ob ihnen das gelungen ist. Die Frage, ob seine Recherchen seine Art und Weise zu bauen beeinflusst haben, seinen kurz vor der Eröffnung stehenden Neubau für den Springer Verlag in Berlin etwa, weicht er aus. Die Architektur sei langsam. In fünf Jahren solle man ihn nochmal fragen. Wozu dann der ganze Aufwand? Das muss dann wohl offenbar jeder Museumsbesucher für sich entscheiden. Und das werden trotz aller Hürden hoffentlich viele tun. Wer sehr viel Zeit mitbringt und für neue Gedanken und Inspirationen offen ist, kann mit der Offenheit dieser Ausstellung durchaus gut umgehen.

Die Idee für „Countryside, The Future“ entwickelte Koolhaas in dem Schweizer Dorf Celerina, wo die Eltern seiner Partnerin Petra Blaisse ein Haus haben. Seit über 25 Jahren fährt er dort hin. Erst stank es so sehr nach Kühen, dass er nicht schlafen konnte, beschreibt er in einem Interview mit der NZZ. Aber das Dorf habe sich verändert. Einer der Bauern dort entpuppt sich als Frankfurter Nuklearwissenschaftler, auf manche Dorfkinder passen Nannys aus Sri Lanka auf. Das Dorf wächst, obwohl die Einwohnerzahl schrumpft. Auf diese Entwicklungen müsse Architektur Antworten geben, sagt Koolhaas.

2014 bestätigte ein Bericht der Vereinten Nationen, dass die Hälfte der Menschheit mittlerweile in Städten und urbanen Räumen lebt. Spätestens jetzt beschäftigten sich die meisten Architekten, Städteplaner und Raumanalysten fast nur noch mit den Ballungszentren dieser Welt. Der perfekte Zeitpunkt für Koolhaas, um eine völlig andere Richtung einzuschlagen. Gegen den Strom schwimmen war schon immer seine Spezialität. Damit ist er berühmt geworden.

1978 zum Beispiel. Zu einem Zeitpunkt, als New York vor allen Dingen für seine hohe Kriminalitäts- und Drogenrate bekannt war. Da schrieb Koolhaas seine Großstadt-Ode „Delirious New York“ und katapultierte sich damit schlagartig in den Mittelpunkt des Urbanitätsdiskurses. Oder mit seinem ästhetischen Interesse an Orten, über die seine Zunft sonst nur die Nase rümpft: Shopping Malls oder die kommerziellen Räume von Flughäfen und Bahnhöfen. Und jetzt eben: der ländliche Raum, das Land, die Pampa. 98 Prozent der Erdoberfläche. Also eigentlich fast alles. Rem Koolhaas backt ungern kleine Brötchen.

Dass die Ausstellung nur auf einen Bruchteil der Entwicklungen eingehen kann, die auf unserer Erde zu beobachten sind, dem ist er sich durchaus bewusst. Ohne zu Zögern spricht er von einer „pointillistischen“ Herangehensweise. Und von einem „Mosaik von Geschichten“, das sich nun die gesamte Guggenheim-Rampe entlang bis unters Dach zieht.

Da gibt es die Gorillas in Ruanda, die ihr Verhalten ändern, weil so intensiv versucht wird sie zu beschützen. Oder den Wüstenstaat Katar, der sich aus einer Notlage heraus zum milchproduzierenden Agrarstaat verwandelt hat. Da gibt es die von Satelliten gewonnenen Daten, die der industriellen Landwirtschaft des Mittleren Westens der USA den Takt vorgeben. Die gigantischen Gebäude für Tech-Konzerne in Nevada, die nur noch für Maschinen gebaut wurden. Oder den schmelzenden Permafrostboden in Sibirien, der die Landschaft dort komplett verändert.

Die Geschichten sind in einzelne Abschnitte gegliedert. Die Ausstellungsmacher haben den Besuchern also durchaus einen roten Faden an die Hand gegeben. Der verblasst allerdings schnell. Zu groß ist die Fülle, zu unterschiedlich die jeweiligen politischen, kulturellen und historischen Umstände. Der Abschnitt „Cartesische Euphorie“ zum Beispiel fasst „extreme Manifestationen aktueller Bedürfnisse und experimentellen Denkens“ mit den am weitesten fortgeschrittenen Technologien im ländlichen Raum zusammen.

Hier findet sich das Gedankenspiel, ob der Philosoph René Descartes seine mathematische Methode nur entwickelt hat, weil er lange in der rechtwinklig angelegten holländischen Landschaft lebte. Gleich daneben stehen reale Roboter, die die alternde japanischen Bevölkerung in der Erntearbeit unterstützen sollen. Interessant. Aber wo genau liegt hier jetzt der Zusammenhang? Und was soll der rauchende Papp-Stalin, der plötzlich auf einem elektronischen Unterbau die Rampe angerauscht kommt? Ach, egal. Zwei Meter weiter wartet schon die nächste Geschichte. Und die nächste. Und die nächste.

Eine „semiotische Säule“, streckt sich von oben bis unten durch die gesamte Guggenheim-Rotunde. Sie zeigt, wie Zeitschriftencover, Werbeanzeigen, Spielzeug und Plattencover seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Vorstellungen vom Leben auf dem Land geprägt haben.

Der Boden der Haupthalle ist mit Abbildungen von schwer zuordenbaren technischen Geräten, antiken Skulpturen und Tieren beklebt. Wörter wie „taoism“, „Ernährungsunsicherheit“ oder „Experimente“ bedecken das Geländer, ein langes, in seiner Gänze nicht lesbares Zitat ziert die Decke der Rampe. Dazu treibt einen die Rampe des Guggenheim-Museum ständig an. Nie gerader Boden unter den Füßen, am hüfthohen Geländer tut sich ein Abgrund auf, je höher es geht. Koolhaas hat die Rotunde des Guggenheim-Museums als „Storytelling Machine“ bezeichnet. Und diese Maschine arbeitet hier auf Hochtouren. Wohin der Blick auch wandert, überall ein neues Bild, ein neues Wort, ein neuer Reiz.

„Countryside, The Future“ legt alles darauf an, ihre Besucher immer in Bewegung zu halten. Physisch und geistig. Ja nicht stehen bleiben. Schließlich geht es um das große Ganze. Um die Zukunft, um die Menschheit. Und das bedeutet eben auch: nie aufhören neugierig zu sein. Immer offen bleiben für eine neue Überraschung, für eine neue Geschichte. Auch ohne eindeutige Antworten.

Und genau das ist es, was die Ausstellung dann doch sehr sehenswert macht. Sie ist im Endeffekt ein großes Plädoyer, sich von der Komplexität unserer Gegenwart nicht einschüchtern zu lassen. Sich ihr zu stellen, statt sich in einfachen Wahrheiten einzurichten. Also genau das Gegenteil zu dem, was die populistischen Strömungen in Trump-Amerika, Brexit-Großbritannien, AfD-Deutschland und in fast allen anderen Teilen dieser Welt gerade so erfolgreich macht.

Ob aber Koolhaas mit seiner komplexen Ausstellungskonzeption auch die Menschen erreicht, die momentan die einfachen Wahrheiten der Populisten vorziehen? Das ist eine Frage, die leider recht einfach zu beantworten ist: Ziemlich sicher nicht.

Bis 14. August, Guggenheim-Museum, New York, Katalog, Taschen Verlag, 20 Euro. Danach weitere Stationen Frankreich, dann in den Niederlanden und China.

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