Religiöse Erziehung von jungen Muslimen: 27 Jungen und der Koran
In Hannover sorgt ein geplantes Schülerwohnheim des konservativen muslimischen Verbandes VIKZ für Aufregung. Ein Kritikpunkt ist das Frauenbild.
Die „Schülerwohnheime“ sind eine etwas eigenwillige Konstruktion, die der „Verband der Islamischen Kulturzentren“ (VIKZ) seit Anfang der 2000er-Jahre im gesamten Bundesgebiet betreibt. 22 sind es mittlerweile, jeweils angegliedert an eine Moscheegemeinde. Und Hannover ist nicht die erste Stadt, in der sie für Diskussionen sorgen.
Es sind keine Internate im eigentlichen Sinn, aber so etwas Ähnliches. Die Schüler*innen kommen in der Regel aus der näheren Umgebung, gehen auf normale öffentliche Schulen, leben aber von Montag bis Freitag in dem Heim, wo sie einen strukturierten Tagesablauf, Hausaufgabenhilfe und religiöse Unterweisungen erhalten, aber auch an Freizeitangeboten teilnehmen können.
Für Diskussionen sorgt dabei zuallererst die rigide Geschlechtertrennung: Der VIKZ betreibt nur fünf Wohnheime für Mädchen, weitere zwei sind in Planung. Die große Mehrheit ist ausschließlich Jungen vorbehalten, wie auch das in Hannover. Hier sollen in ein paar Jahren bis zu 27 Schüler im Alter von 12 bis 18 Jahren unterkommen.
Mehr als 300 Moscheegemeinden gehören dem VIKZ an, er gehört neben Ditib, Milli Görüş und dem Zentralrat der Muslime zu den vier größten islamischen Verbänden in Deutschland.
Er ist auch einer der ältesten: 1973 wurde der Dachverband in Köln gegründet. Er gehört der sunnitisch-hanefitischen Ausrichtung des Islam an und folgt den Lehren Süleyman Hilmi Tunahans.
Inhaltlich vertritt der VIKZ eine eher konservative Ausrichtung des Islam. Er beschreibt sich selbst aber als „moderat“ und „fern von Extremismus und Fanatismus“.
„Wir richten uns da nach der Nachfrage seitens der Moscheegemeinden und der Eltern“, sagt VIKZ-Sprecher Erol Pürlü. Und so ungewöhnlich sei die Geschlechtertrennung ja nun auch nicht, bei ihm in Köln gebe es ja schließlich auch ein katholisches Mädchengymnasium und sein Bruder sei früher in Bayern auf eine Knabenrealschule gegangen.
Die Moscheegemeinde in Hannover, um die es hier geht, gehört zu den ältesten der Stadt. Seit 1979 residiert sie im Hinterhof des historischen Gemäuers an der Gerberstraße, irgendwann hat sie Grundstück und Gebäude gekauft.
Für die bröckelnde Fassade zur Straße hin interessierte sich lange niemand, dabei gehört das Gebäude zu einem der wenigen Vorkriegsüberbleibsel im Viertel. 1898 erbaut, gehörte es zur „Königsworth“, einem weitläufigen Gastronomiebetrieb mit mehreren Sälen, in denen sowohl politische Versammlungen als auch große Bälle stattfanden, später waren hier auch mal Kegelbahnen und ein Kino angesiedelt.
Unter Denkmalschutz steht das Ganze allerdings nicht, wie das Landesamt für Denkmalpflege der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) mitteilte – dazu ist zu wenig Originalmasse übrig, zu viel wurde umgebaut, angebaut und zugebaut.
Nun möchte die Gemeinde das Vorderhaus abreißen und ein modernes, mehrstöckiges Wohnhaus für die Schüler errichten. Kostenpunkt: circa zwei Millionen Euro. Auch das ist ein Punkt, an dem sich Beobachter immer wieder die Augen reiben. Woher hat der Verband so viel Geld? „Mitgliedsbeiträge, Spenden, Kredite“, lautet die immer gleiche Antwort.
Gegenwind überall
Dabei gehört das Bauprojekt der Gemeinde in Hannover noch zu den eher mickrigen. In Leinfelden-Echterdingen, südlich von Stuttgart, plant der VIKZ einen ganzen Gebäudekomplex aus Moschee, Wohnheim, Bibliothek, Café und Supermarkt für 3,5 Millionen Euro. Da hat allerdings die Stadt, die das Grundstück in Erbpacht vergeben hatte, einen Rückzieher gemacht und man streitet nun vor Gericht darüber, was jenseits der Moschee im ersten Bauabschnitt überhaupt noch entstehen darf.
In Köln soll es eine große neue Verbandszentrale mit Ausbildungs- und Tagungszentrum für rund 70 Millionen Euro werden. Hier hat der Verband extra eine eigenen Webseite aufgesetzt und massiv in die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit investiert, damit nichts schiefgeht.
Der harte Gegenwind ist allerdings auch nicht neu. Im Hinblick auf die Schülerwohnheime hat vor allem ein Gutachten den Verband sehr getroffen. Es wurde 2004 im Auftrag des hessischen Sozialministeriums von Prof. Ursula Spuler-Stegemann, Turkologin an der Uni Marburg, verfasst. Spuler-Stegemann wirft dem VIKZ darin vor, die Kinder abzuschotten und zu indoktrinieren. Entgegen der offiziellen Verlautbarungen ginge es keineswegs um Integration, sondern um Elitenbildung, im Mittelpunkt stünde die religiöse Erziehung und nicht der Schulerfolg.
Das Gutachten ist allerdings umstritten und wurde nie offiziell veröffentlicht. Es reichte für die Landesregierung aber trotzdem, um ein Schülerwohnheim in Hessen zu verbieten. In Versatzstücken kursiert es immer noch im Internet und wird auch nach mehr als 17 Jahren immer wieder zitiert, wenn es zum Streit um die Wohnheime kommt.
Spuler-Stegemann selbst sagte 2011 der Neuen Westfälischen Zeitung, ihre Kritik habe sich damals wesentlich auf die verwendeten Lehrmaterialien gestützt, die unter anderem ein nicht akzeptables Frauenbild verbreiteten. Sie habe die Entwicklung des Verbandes aber seither nicht weiter verfolgt.
Gutachten und Gegengutachten
Der Verband hat schließlich 2010 ein Gegengutachten in Auftrag gegeben. Die Pädagogin Ursula Boos-Nünning von der Universität Duisburg-Essen befragte für die empirische Studie Schüler*innen, Fachpersonal und Eltern in allen der damals 19 Schülerwohnheime und führte Expert*inneninterviews in Jugendämtern und Schulen, die mit den Schülerwohnheimen in Verbindung standen.
Sie zeichnet ein sehr viel differenzierteres Bild der Einrichtungen. Ihrer Darstellung nach ist der Bildungserfolg durchaus ein zentrales Motiv, vor allem für die Eltern und Schüler. Die Bildungsarbeit des VIKZ stoße damit auch in eine Lücke, die sich im diskriminierenden deutschen Bildungssystem nun einmal auftue.
Sie sieht zwar Verbesserungsbedarf insbesondere bei der Mitbestimmung und der Medienerziehung der Schüler sowie bei der Abstimmung zwischen pädagogischem Fachpersonal, Imam und Gemeinde. Anzeichen für Indoktrination oder Kindeswohlverstöße sieht sie aber nicht. Mit dem Gutachten von Spuler-Stegemann geht sie hart ins Gericht: es verstoße gegen wissenschaftliche Standards, sei ressentimentgeladen und nenne keine Quellen.
Dass sich die Kritik an den Wohnheimen so hartnäckig hält, liegt aber möglicherweise auch daran, dass sich die Gemeinden nicht so gern in die Karten gucken lassen. Auch in Hannover nehmen die der VIKZ zugerechneten Gemeinden – es gibt eine weitere in Stöcken – eher sporadisch an den interreligiösen Dialogen teil und bleiben meist für sich.
Im Zuge des neuen Bauprojektes ist die Gemeinde immerhin auf die Nachbarn zugegangen und hat mit Broschüren um Verständnis und Unterstützung geworben. Ihr erster Bauantrag wurde allerdings abgelehnt, jetzt versucht man nachzubessern. „Grundsätzlich gilt, dass ein Bauantragsteller einen Rechtsanspruch auf eine Baugenehmigung hat, wenn er die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt“, erläutert eine Sprecherin der Stadt – baurechtlich entspreche die Nutzung ja weiterhin einer Wohnnutzung, wie sie in der Gegend vorgesehen sei. Daher gäbe es da auch keine weiteren Hindernisse.
Erst wenn das klar ist, kann die Gemeinde die Betriebsgenehmigung für das Wohnheim beim Landesjugendamt beantragen. Dazu muss sie unter anderem pädagogisches Fachpersonal anstellen. „Das wird schon noch ein paar Jahre dauern“, sagt VIKZ-Verbandssprecher Erol Pürlü.
Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der VIKZ betreibe zwei Wohnheime für Mädchen und weitere drei seien in Planung. Nach Angaben des VIKZ gibt es jedoch bundesweit fünf Wohnheime für Mädchen und zwei weitere sind in Planung. Wir haben den Text entsprechend dieser Angabe verändert.
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