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Reichspogromnacht mit VR-BrilleErinnern in 3D

Am 9. November war die Gedenkfeier an die Reichspogromnacht 1938. Vor der jüdischen Gemeinde konnte man sich die abgebrannte Synagoge anschauen.

Junge Frau liest Namen von Ermordeten vor Foto: Hanno Rehlinger

Berlin taz | Eine junge Frau steht am Pult mit dem Mikrophon und liest mit heller Stimme: „Friedmann, Margarethe; Friedmann, Margarethe geb. Rosenthal; Friedmann, Moritz…“ Es ist Dienstag Abend vor dem Zentrum der jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße: Zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 werden – wie jedes Jahr – die Namen der 55.696 Berliner Juden und Jüdinnen verlesen, die in der NS-Zeit ermordet wurden.

Seit 10 Uhr morgens lesen die Jugendlichen vor – und sie werden bis 22 Uhr nicht fertig werden. Rechnet man pro Name drei Sekunden, würde man ohne Unterbrechung 46 Stunden und 41 Minuten lesen, bevor man zum letzten Namen käme – Zytnicki, Samuel, deportiert am 06. März 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz.

Die Namen, die übrig bleiben, werden seit einigen Jahren am 21. April, dem israelischen Shoa-Gedenktag vorgelesen. Die jungen Gemeindemitglieder wechseln sich stündlich ab, aber auch Menschen aus dem Publikum dürfen übernehmen – für ein paar Minuten, oder auch länger, wie sie wollen. Die Schlange der Wartenden ist lang.

Hinter den Vor­le­se­r*in­nen werden Bilder der Synagoge ans Gemeindehaus gestrahlt. Erst von außen, dann aus verschiedenen Innenansichten, setzen Pixel das Gebäude wieder zusammen, das vor 83 Jahren an genau diesem Ort nieder gebrannt wurde.

„Mein Vater kommt nämlich erst bei M“

Sonja Shafranova hat bis vor kurzen das jüdische Gymnasium besucht, sie ist aktives Mitglied der Gemeinde. Auf die Frage, wie sie sich beim Vorlesen gefühlt hat, antwortet sie trocken: „Erschreckend, dass wir gerade erst bei F sind.“ Es ist 18:05, seit 8 Stunden wird nun ununterbrochen gelesen.

Eine gebückt laufende, alte Dame unterbricht unser Gespräch: “Wo sind wa denn?“ „Ach, F erst, nun gut, mein Vater kommt erst bei M“. Dann trottet sie weiter auf das Gemeindezentrum zu. Eine ältere Frau liest gerade vor. Sie unterbricht sich kurz, um ein paar quatschende Jugendliche anzuherrschen, sie mögen doch bitte ruhig sein, während die Namen der Ermordeten vorgelesen werden. Die Jugendlichen verstummen sofort.

Neben dem Podium ist ein Stand mit VR-Brillen. Hier kann man einen virtuellen Rundgang durch die abgebrannte Synagoge machen. Mit diesem Projekt des World Jewish Congress wurden 18 zerstörte Synagogen in Deutschland und Österreich für den Gedenktag wieder sichtbar gemacht.

Wer die Brille aufzieht, sieht die Pfeiler des alten Gotteshauses an beiden Seiten zur Decke ragen. Unter den drei mächtigen blauen Kuppeln konnten 2.000 Menschen Platz nehmen. Den nächsten Blick wirft man auf den Bima - das Podest, von dem aus die Tora vorgelesen wird – und den Toraschrein. Ihre Nähe zu einander an der Ostseite der Synagoge mache die liberale Ausrichtung des Gotteshauses erkennbar, erzählt eine Stimme über Kopfhörer. Männer und Frauen saßen trotzdem getrennt: Die Männer auf den Bänken unten und die Frauen auf den Emporen.

Dort oben fällt das Licht schräg durch die Deckenfenster und hüllt die Halle und den Toraschrein in seinen fröhlichen Glanz. Der Rundgang endet mit diesem Blick von der Westempore. Setzt man die Brille ab, steht man plötzlich wieder im abendlichen Berlin, vor einem das kleine Gemeindehaus, das 1958 an die Stelle der Synagoge gerückt ist, neben einem die Vorlesenden: Goldmann, Hans; Goldmann, Hans; Goldmann, Heinz…

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