Rehabilitierung Paragraf 175: „Ich hatte Angst, nichts als Angst“
Helmut Kress wurde wegen eines Liebesbriefs an einen Mann verfolgt. Der Bundestag berät nun ein Gesetz zur Entschädigung der Opfer.
Helmut Kress trägt über dem mächtigen Bauch ziemlich auffällige Klamotten, gemessen an den meisten Menschen in fahlen Anoraks und eher gräulichen Blusen und Hemden; Violettes, ein paar Tupfer Gelb. Die Frühlingssonne macht ihn noch strahlender: Was für ein Triumph über die Provinz, die diese Stadt vielleicht heutzutage noch ist, gewiss aber in schlimmer Art vor mehr als 50 Jahren.
Helmut Kress, Jahrgang 1946, war Anfang der sechziger Jahre Lehrling bei der Stadt, er lernte Bauzeichnerei. Am 18. Oktober 1961 erhielt er Post vom Amtsgericht. In diesem Brief stand: „Das Städtische Personalamt hat in meinem Auftrag am 27. September 1961 der Landes-Kriminal-Hauptstelle Tübingen einen Brief übergeben, der von dem beim Stadtplanungsamt beschäftigten Zeichnerlehrling Helmut Kress abgefasst und an Helmut S. adressiert war. Nach dem Inhalt des Briefes könnte eine strafbare Handlung gemäß Paragraph 175 Strafgesetzbuch beabsichtigt gewesen sein.“ Unterzeichnet von Helmut Gmelin, Tübingens Oberbürgermeister damals und Vater der späteren SPD-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin.
Was war vorgefallen? Helmut Kress war denunziert worden: als „warmer Bruder“, Hundertfünfundsiebziger, als „Schwuler“, was damals noch ein ätzendes Schimpfwort war. Einen Brief an einen angeschwärmten Mann hatte er in einer Schublade an seinem Arbeitsplatz verwahrt – und dieser war dort vom „Lehrherrn“, wie Kress sagt, gefunden worden. Der Brief ist nicht mehr erhalten, aber sexuell Eindeutiges war garantiert nicht enthalten, so Kress. „Ich wollte ihn vielleicht nie abschicken, diesen Brief, aber es war klar, dass ich den zu Hause nicht haben durfte.“
Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument
Homosexualität wurde in der Bundesrepublik jener Jahre stärker verfolgt als im heutigen Russland. Schwules war verboten, der Paragraf 175, der in seinem strafrechtlich relevanten Rest erst 1994 mit dem deutsch-deutschen Einigungsvertrag vollständig getilgt wurde, war ein Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument sondergleichen. Die Fassung des Paragrafen, die bis 1969 auf ausdrücklichen Wunsch christlicher Kreise in seiner Nazifassung galt, gab Leuten wie dem Vorgesetzten des angehenden Bauzeichners das moralische Recht, in den Privatsachen ihrer Untergebenen zu schnüffeln.
Bürgermeister Gmelin übergab das „Beweisstück“ an die Polizei. Was darauf folgte, war unter Hunderttausend anderen Fällen ein Beispiel bundesdeutscher Sittlichkeit jener Zeit. Eines Vormittags bekam Helmut Kress, der Jugendliche, im Stadtplanungsamt Besuch von zwei Kriminalbeamten. „Sie sagten zu mir: Es liegt eine Straftat vor. Sie haben mir Handschellen angelegt und mich mit dem Auto in die Gartenstraße gebracht.“
In Gewahrsam verhörten sie den 15-Jährigen „bis abends um 8 Uhr“ – nicht einmal ein Anwalt durfte dabei sein, die Eltern natürlich auch nicht. Kress erzählte freimütiger, als ihm gut tun würde, das, worauf die Schnüffler scharf waren. Dass der Brief nur ein Zeichen der Schwärmerei gewesen sei, dass es nicht zum Äußersten gekommen sei. Aber schwul zu sein, das stimme. Das reichte den Ermittlern.
Warum hat er denn so freimütig berichtet? „Ich hatte Angst, nichts als Angst. Und ich dachte, weil ja nichts vorgefallen war, nichts Konkretes, würde mir schon nichts passieren.“ Am Ende verlor Kress, den man heute liebevoll in Tübingen als „Poldi“ kennt, als gemütlichen Wirt der Weinstube Göhner, seinen Ausbildungsplatz. „Wegen fortgesetzter Unzucht unter Männern“ nach Paragraf 175 und Paragraf 3 Jugendgesetz verurteilte das Amtsgericht ihn am 2. Februar 1962 zu zwei Wochen Jugendarrest. Kress kam ins ehemalige Zuchthaus nach Oberndorf am Neckar, dort in Einzelhaft, Eisentür mit Guckloch.
Dauerhafte Kriminalisierung
Man darf sich aus heutiger Sicht fragen, wie monströs bösartig Charaktere wie der des Ausbilders oder auch des Bürgermeisters der Universitätsstadt waren mit ihrer akkurat bürokratischen Verfolgung eines absurd nicht existierenden Delikts.
So war das Land damals aber überall. „Warme Brüder“ waren, lebten sie nicht asexualisiert in Scheinehen, rund um die Uhr von Kriminalisierung bedroht. Und das fanden die meisten auch sehr okay. Hauptsache, so einen hatte man nicht in der eigenen Familie. Eine miefige Zeit, eine, in der es einen Kuppeleiparagrafen auch noch gab. Der verbot heterosexuellen Paaren zusammenzuleben, sofern sie nicht verheiratet waren; der untersagte Hotels und Pensionen, solchen Paaren Zimmer zu vermieten – man machte sich sonst strafbar.
Tübingen sieht an diesem Tag mit Helmut Kress sehr hübsch aus. Irgendwie so ein Legoland in echt, ein schmuckes Teil mitten in lieblicher Landschaft. Menschen, die sich bei Wein und Bier draußen sonnen, freundliche Grüße einander erbietend. Man beleidigt niemanden, sagt man, dass der Horror christlicher Nachkriegssittlichkeit auch diesem puppigen Flecken eingewoben war.
Kress umreißt am Bahnhof, vor der Altstadt am Neckar, mit seinem Arm die Topografie heimlich und immer ängstlich gelebter Homosexualität. „Auf’m Wackel“ sei man gewesen, durch die Stadt im Modus des Cruisings. Und zeigt auf Grünes, wo es einst Toilettenanlagen gab, „Klappen“, Treffpunkte von schwulen Männern. Sexorte natürlich auch, wo hätte man auch sonst hingehen sollen. Aber auch Treffpunkte an sich, Nachrichtenbörsen. „Dort erfuhr man, wo was ist, wo Gefahr drohte, immer mit dem Blick darauf, ob irgendwo Polizei ist, dem schlüpfrigen Gewerbe der Nachstellung von Situationen in flagranti nachgehend.
Bruch mit dem Vater
Ist sein Dasein in Tübingen, in seiner Heimat nicht ein Triumph für ihn? Ist es nicht auch Genugtuung, dass er seine Geschichte erzählen kann, moralisch nicht mehr aussätzig, sondern ein Opfer, das in jeder Hinsicht eine Entschuldigung verdient? Helmut Kress winkt ab. „Ach, solche Gefühle kenne ich nicht. Ich hatte sie auch nie. Ich hatte ja ein gutes Leben.“
Nur dass das Verhältnis zu seinem Vater zerstört war. Der hatte ihn nämlich nicht geschützt, sich auch vor Gericht nicht für seinen Sohn ausgesprochen, ihm jede elterliche Solidarität verweigert – auch dies kein Einzelfall: Eltern hatten die Opfer des Paragrafen 175 nur selten an ihrer Seite. „Das war früher so, das ist auch heute nicht verschwunden: Man darf nicht darüber reden, dass man einen schwulen Sohn oder eine lesbische Tochter hat.“
Kress verließ Tübingen, arbeitete in der Gastronomie, München und Berlin, hatte mit seinem Lebensgefährten ein Hotel weit weg von Tübingen. Und kam nach dessen Tod doch in seine Heimatstadt zurück. Die Weinstube Göhner ist der Ausweis seiner wiedergewonnenen Gutbürgerlichkeit. Freut er sich, dass das Bundesjustizministerium die Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175 der bundesdeutschen Zeit betreibt, dass die Urteile gegen schwule Männer – lesbische Frauen waren von diesem Paragrafen nicht betroffen, die Ächtung schlechthin betraf auch sie – kassiert werden? Kress antwortet umgehend: „Ja, natürlich, es war ja alles kein Unrecht. Es ist gut, auch wenn es sehr lange gedauert hat.“
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