Regisseur über Überlegenheitsnarrative: „Wir lernen, auf vermeintlich Schwächere herabzuschauen“
„Mia san Mia“ heißt ein Stück des Regisseurs Marco Layera an den Münchner Kammerspielen. Ein Gespräch über Parallelen zwischen Deutschland und Chile.
taz: Ein deutsches Sprichwort sagt: „Die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln.“ Daran musste ich denken, als die Figuren in „Mia san Mia“ mit kartoffelförmigen „Steinen“ auf die Bühne kamen.
Marco Layera: Wir haben für diese Arbeit vieles erkundet, die Kultur der Arbeit, der Familie – und auch das ländliche Leben. Dass die „Steine“ Kartoffelform haben, ist kein Zufall. Man kann diese Verbindung herstellen, ohne dass es ein eindeutiges Bild sein soll.
taz: Damit haben diese Figuren aber auch gleich einen Stempel. Und sie sind durch andere äußere Attribute als Bayern-Zombies gekennzeichnet. Das haben einige Zuschauende als Bashing aufgefasst. Worum ging es Ihnen?
Layera: Es geht in dieser Arbeit um das Konzept der Identität, und das beinhaltet nicht nur, wie ich mich selbst beschreibe, sondern auch, wie ich von anderen gesehen werde. Wir haben uns die Frage gestellt, wie sieht man die Bayern und die Deutschen von außen?
Marco Layera (*1978, Santiago de Chile) ist Schauspieler, Regisseur und Schauspiellehrer. 2008 gründete er das Kollektiv La Re-sentida. Beim Festival für Junges Theater des Teatro Municipal de Las Condes wurde er für das beste Theaterstück ausgezeichnet. Er erhielt den Eugenio-Guzman-Preis der Universität Chile und war für den Kunstpreis Premio Altazor a los Artes Nacionales nominiert.
taz: Die Bayern oder die Deutschen?
Layera: Für den Außenblick basiert das „typisch Deutsche“ auf der bayerischen Kultur. So wird Deutschland im Ausland wahrgenommen. In Chile kommt noch die Erfahrung mit der wegen ihrer Grausamkeit sehr bekannt gewordenen deutschen Sekte Colonia Dignidad dazu, die heute Villa Bavaria heißt. Und es gibt die Stereotype, die Deutschen seien kalt, zeigten keine Zuneigung, agierten effizient und immer rational.
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taz: Dann aber kommen ausländische Berichterstattende zur Fußball-EM und wundern sich über die ineffiziente Deutsche Bahn. Einige dieser Vorurteile gibt es auch innerdeutsch.
Layera: 2019, als ich zum ersten Mal nach München gekommen bin, haben mich Berliner Kollegen gewarnt: München sei die konservativste Stadt Deutschlands und voller Faschisten. Ich bin mit einer gewissen Angst hierhergekommen: Welchen Monstern werde ich wohl begegnen? Als ich dann in die Münchner U-Bahn gestiegen bin, habe ich eine sehr diverse Stadt gesehen. Aber Vielfalt nutzt wenig, wenn die Gruppen sich nicht durchmischen, sondern die einen nur die Dienstleistungen für die anderen verrichten.
taz: Auch wenn das in einer Stadt mit so vielen großen internationalen Arbeitgebern eher weniger ausgeprägt ist als anderswo in Deutschland. Sie haben vorab gesagt, das Motto „Mia san Mia“ sei Ihnen vertraut. Inwiefern?
Layera: Dieses Identitäts- und kriegerische Überlegenheitsnarrativ existiert in Chile genauso. Uns hat man gesagt, wir wären „die Jaguare Lateinamerikas“, arbeitsam, bescheiden, und stünden den Europäern näher als unseren Nachbarn. Schon in der Schule haben wir gelernt, auf vermeintlich Schwächere herabzuschauen. Es ist also anekdotisch, dass die Figuren in diesem Stück bayerisch gekleidet sind. Es könnte ebenso gut in Chile spielen oder in Spanien, dem Land, das uns kolonisiert hat.
taz: Die Wesen im Stück haben sich freiwillig auf einen Wanderplaneten begeben, um dort Rituale zu pflegen, die auf der Erde mittlerweile verboten sind wie etwa das Essen von Fleisch. Welche Idee steckt dahinter?
Layera: Wenn die hegemoniale Kultur sich bedroht sieht, zieht sie sich auf sich selbst zurück, wird endogam. Progressivität ruft heute sehr starke Gegenreaktionen hervor. Auch in Chile mehren sich Stimmen, die fordern: Lasst uns zurückkehren zu dem, was wir gewesen sind. Dazu gehört auch das Festhalten an sinnentleerten Ritualen, wie es die Feier zur chilenischen Unabhängigkeit oder das Oktoberfest meiner Ansicht nach sind: Diese Feste sind eine bloße Einladung zum Konsum und transformieren die Menschen zu großen, alles verschlingenden Wesen. Als ob der erste, der ins Alkoholkoma fällt, einen Jackpot gewinnen würde.
taz: Auf der Bühne werden diese beiden Tendenzen einer Gruppe als Inzest und Kannibalismus überzeichnet. Wollten Sie Monster zeigen?
Layera: Ich wollte eine Kultur zeigen, die hegemonial ist, aber auch entwurzelt, und die an einem lebensfeindlichen Ort ums Überleben kämpft. Dass diese Wesen Schmerz empfinden und wir mit ihnen mitleiden können, war für mich ganz wichtig. Das ist die Herausforderung: Empathie empfinden mit einem Monster, dessen Meinungen und Werte ich nicht teile. Ob uns das gelungen ist, muss das Publikum entscheiden. Bei meinem Sohn jedenfalls funktioniert es: Ihm erzähle ich das Stück wie ein Märchen und es macht ihn traurig, dass diese Wesen Erde essen, ohne Licht leben müssen und von unserem Planeten träumen, auf den sie nie zurückkönnen.
taz: Schon Ihre Vorgängerproduktionen „Oasis de la impunidad“ und „Die Möglichkeit von Zärtlichkeit“ entstanden in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen. Wie hat sie sich gestaltet?
Layera: Sie begann eigentlich schon während der Intendanz von Matthias Lilienthal, nur kam dann Corona dazwischen. Ich empfinde eine große Dankbarkeit dafür. Während der Pandemie haben wir ein Jahr und acht Monate gar nicht arbeiten können, weil die Einschränkungen in Chile drakonisch waren. Ohne die Kammerspiele, das F.I.N.D.-Festival der Schaubühne und andere europäische Partner, deren Unterstützung von den Dramaturgen Elisa Leroy und Martín Valdés-Stauber koordiniert worden ist, wäre uns der Neustart danach nicht möglich gewesen. In Chile Theater zu machen ist schwer.
taz: Warum?
Layera: In Chile hat kein Theater ein Ensemble und erst in den letzten Jahren haben die Kulturzentren Gabriela Mistral und Matucana 100 in Santiago de Chile begonnen, mit sehr unterschiedlichen Budgets die Kreativen im Theaterbereich zu unterstützen. Aber nur sehr wenige haben Zugang zu dieser Unterstützung. Ich gehöre dazu. Ich bin ein Privilegierter, und das erlaubt es mir inzwischen, meinem Team einen würdigen, fairen Lohn zu zahlen.
taz: Wie haben Sie das vorher gehandhabt? Ihre Gruppe besteht ja schon seit 2008?
Layera: Die ersten zwei Jahre haben wir nachts geprobt und tagsüber gekellnert. Gleich unser erstes Projekt hat uns Türen geöffnet zu internationalen Partnern. Während wir damit tourten, haben wir finanzielle Rücklagen aufgebaut, um neue Arbeiten auch ohne Co-Produzenten entwickeln zu können. Aber man kommt da sehr schnell an Grenzen. In Chile machen wir Theater, weil wir hungrig sind, weil wir es brauchen. Auch wenn wir kein Geld haben. Ich möchte das aber nicht romantisieren. Ich habe viele Mitstreiter, die allmählich müde werden. Und es tut weh, das zu sehen.
taz: Ihre Kompanie heißt La Re-sentida, Die Nachtragende. Ist das Sich-Erinnern an die Gewaltgeschichte des eigenen Landes ein durchgängiges Motiv in Ihrer Arbeit?
Layera: Ja, wir machen Theater für unsere Generation, die das Gefühl hat, eine Wunde zu tragen, die nicht verheilt und weiterschmerzt, uns aber auch die Kraft der Empörung und Wut gibt. Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu meinem Land. Ich liebe und hasse es. Ich bin aufgerufen, stolz zu sein, aber worauf? Auf den Genozid an den Ureinwohnern oder darauf, dass so viele meiner Landsleute die Militärdiktatur Pinochets unterstützten?
taz: Eine Ihrer Produktionen heißt auf Deutsch „Der Versuch, ein Stück zu machen, das die Welt verändert“. Wie schätzen Sie das politische Potenzial von Theater aktuell ein?
Layera: Ich möchte daran glauben, obwohl man heute sieht, dass die Effekte von Theater klein sind. Aber es gibt auch eine Mikropolitik, die in unserer Kompanie lebt und in der Gemeinschaft mit unserem Publikum. Das ist auch schon etwas. Und die Kunst insgesamt hat zu den sozialen Aufständen in Chile 2019 ein Sandkörnchen hinzugefügt. Die Rechten wissen inzwischen, wie wichtig die Kultur für eine demokratische Gesellschaft ist. Das ist gefährlich. Wenn sie wieder an die Macht gelangen, und das ist zumindest in Chile so gut wie sicher, werden sie ihre Leute in den Kulturinstitutionen installieren.
Die Übersetzung erfolgte durch den Dramaturgen und Co-Autor Martín Valdés-Stauber
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