Regisseur über Trauma auf der Bühne: „Das Theater kann Nicht-Erinnertes sichtbar machen“
Ein Projekt am Hamburger Thalia widmet sich dem Trauma des Heimatverlusts. Grundlage ist Christiane Hoffmanns Buch „Alles, was wir nicht erinnern“.
taz: Herr Grünewald, wie bringt man ein Trauma auf die Bühne?
Gernot Grünewald: Indem man Prozesse zeigt, die die Entstehung und Weitergabe von Traumata oder Angststörungen für die Zuschauenden sinnlich erlebbar machen. Wir, also die Dramaturgin Susanne Meister und ich, befassen uns schon länger mit den Themen Flucht und Vertreibung und in diesem Zuge auch mit der intergenerationellen Weitergabe von Traumata. An Christiane Hoffmanns Buch „Alles, was wir nicht erinnern“, für das sie die Fluchtroute ihres Vaters 1945 von Niederschlesien nach Wedel bei Hamburg nach wanderte, lässt sich zeigen, wie eine Fluchterfahrung bis in die dritte Generation fortwirkt und wie schwer Neu-Verheimatung ist. Das Theater kann dabei Zeitebenen verschmelzen lassen und Nicht-Erinnertes oder -Ausgesprochenes sichtbar machen.
taz: Wie haben Sie recherchiert?
Grünewald: Wir sind zusammen mit Christiane Hoffmann und dem polnischen Dramaturgen Jarosław Murawski nach Różyna gefahren – das Dorf, aus dem ihr Vater stammte – und haben die dort heute lebenden Menschen nach ihrer Vertreibungserfahrung im Zuge der „Westverschiebung“ Polens“ am Ende des Zweiten Weltkrieges befragt. Fast alle Familien kommen aus einem Dorf in der heutigen Westukraine. Entstanden ist so eine deutsch-polnische Parallelgeschichte. Beide Seiten haben eine Heimatverlusterfahrung erlitten und mussten sich in der Fremde neu-beheimaten. Nur, dass die Polen das in den zum Teil noch intakten Dörfern der deutschen Täter tun mussten, umgeben von deren Möbeln und Porzellan.
taz: Gelang die Neu-Verheimatung?
Grünewald: Auch hier zeigen sich Parallelen. Die erste Generation hat den Heimatverlust nie ganz überwunden, erst die dritte fühlt sich in Różyna zuhause. Der Aneignungsprozess braucht drei Generationen. Dabei hat sich das Dorf seit dem Zweiten Weltkrieg nur wenig verändert: Die Polen leben noch immer in den ehemals deutschen Häusern.
Jahrgang 1978, Regisseur mit Schwerpunkt Recherche- und Dokumentar-Theater.
taz: Wie gehen die Bewohner mit der deutschen Geschichte des Ortes um?
Grünewald: Nach dem Krieg wurde versucht, deutsche Spuren aus dem öffentlichen Leben zu tilgen. In Różyna pflastern deutsche Grabsteine den Weg zur Kirche, die wenigen verbliebenen deutschen Grabmale auf dem Friedhof waren zum Zeitpunkt unserer Reise im Februar dieses Jahres verfallen. Diesen Sommer haben die Dorfbewohner dann die alte deutsche Friedhofsmauer gestrichen und eine Gedenkplatte angebracht. Der Pfarrer des Dorfes möchte mit Hilfe der Bewohner auch die Grabsteine auf den Friedhof zurückbringen. Auch diese Geschichte ist Teil unserer Inszenierung, die sich neben den traumatischen Fluchterfahrungen auch mit der Gegenwart eines ehemals deutschen, jetzt polnischen Dorfs auseinandersetzt.
taz: Welche Rolle spielen Videos in Ihrer Inszenierung?
Grünewald: Wir sind im Zuge unserer Recherchereise noch einmal die 550 Kilometer des Trecks von 1945 und damit auch des Weges von Christiane Hoffmann abgefahren. Mit dem dabei entstandenen Bild- und Tonmaterial versuchen wir das Dorf und die Orte und Landschaft der Flucht audio-visuell erfahrbar zu machen und so dem Ursprung der traumatischen Erfahrung nahe zu kommen.
Uraufführung „Alles, was wir nicht erinnern“. 29. 11., 20 Uhr, Thalia Gaußstraße, Hamburg. Termine: 1. und 8. 12. sowie 5. und 16. 1., jeweils 20 Uhr, und am 18. und 22. 12., 19 Uhr. Letztmals am 7. 2., 20 Uhr
taz: Warum liegt Ihnen daran, dem Schmerz deutscher Vertriebener nachzuspüren?
Grünewald: Weil er in beiden Teilen Deutschlands auf unterschiedliche Weise bis heute nicht verarbeitet wurde und daraus familiäre und gesellschaftliche Brüche entstanden sind, die uns als Gesellschaft weiter prägen. Wenn ein Viertel der deutschen Nachkriegsbevölkerung eine in vielen Fällen traumatische Verlusterfahrung in sich trägt und man um die Intergenerationalität von Traumata weiß, dann ist das titelgebende „Alles was wir nicht erinnern“ Teil unserer Gegenwart. Diese Gegenwart produziert im Augenblick in der Ukraine und anderswo wiederum millionenfach Traumata, die in den nächsten Jahrzehnten Teil unserer Alltags sein werden. Das ins Bewusstsein zu heben, historische Erfahrung mit Gegenwart zu verbinden und deren Auswirkungen zu reflektieren, ist Motivation für dieses Projekt.
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