Regionalismus in Europa: Schottische Mickymaus-Ökonomie
Ein unabhängiges Schottland? Sollen sie doch, sagen viele Engländer. Auch die Schotten wollen Souveränität – mit dem Herzen. Im Kopf bleiben Zweifel.
BERWICK/KELSO/BOWNESS taz | Links am Straßenrand liegt ein verwitterter Stein, in den „England“ eingemeißelt ist. Etwa 200 Meter rechts davon begrüßt ein modernes Blechschild die Reisenden: „Willkommen in Schottland“. Zwischen beiden Grenzmarkierungen steht ein kleines einstöckiges Haus. Liegt es in Schottland oder in England? „In Schottland“, sagt Colin Nicholson, dem das Haus gehört. „Die Grenze verläuft zwischen den beiden Markierungen schräg über die Straße.“ Die führt nach Berwick-upon-Tweed, der nördlichsten Stadt Englands.
Nicholson ist Rentner, nebenbei hilft er Freunden auf dem Bauernhof. Früher hat er in Saudi-Arabien und in Rotterdam in der Ölindustrie gearbeitet, aber das ist lange her. Seit 19 Jahren wohnt er in dem Haus im vermeintlichen Niemandsland. Neben seiner Eingangstür hat er ein Holzschild aufgehängt. Es weist darauf hin, dass sein Haus früher eine Zollstation war. „Am Ende des Weges gegenüber fließt der Tweed, und früher wurden Kohle und andere Waren durch die Furt gebracht“, sagt Nicholson.
Wird sein Haus wieder zur Zollstation, wenn die Schotten 2014 über die Unabhängigkeit abstimmen? Schottland wäre dann, zumindestens anfangs, kein Mitglied der EU. „So weit wird es nicht kommen“, glaubt er. „Ich hätte zwar nichts dagegen, es wäre eine gute Sache, aber wie soll das funktionieren? Die ganze Gegend lebt von Subventionen, und damit meine ich nicht nur Schottland, sondern auch den Norden Englands.“ Wenn man hüben wie drüben keinen staatlichen Job ergattern könne, sei man schlecht dran. „In Berwick gab es früher ein Kino und ein Schwimmbad. Alles weg.“
Ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands von Großbritannien soll am 18. September 2014 stattfinden. Das gab der Chef der schottischen Regionalregierung, Alex Salmond, am Donnerstag bekannt. Die britische Regierung hatte sich im Oktober 2012 damit einverstanden erklärt, dass eine solche Volksabstimmung abgehalten wird.
Die Serie: Das Streben nach Unabhängigkeit nimmt zu in Europa. Die taz geht in diesen Wochen jeden Montag dem aufkeimenden Regionalismus nach und blickt außer nach Südtirol (taz vom 18. 2.), Vojvodina (25. 2.), Flandern (4. 3.) Katalonien(taz vom 11.3.) nach Schottland und Bayern.
Schottland: Das Land habe ein Lächeln auf den Lippen und einen Willkommensgruß in den Augen, schrieb der englische Reiseschriftsteller Henry Vollam Morton 1929. Seine Landsleute hatten in den Jahrhunderten zuvor anderes erfahren: 1297 siegten die Schotten unter WilliamWallace in der Schlacht bei Stirling Bridge, 1314 gewann Robert the Bruce in der Schlacht von Bannockburn – Ereignisse, die heute noch in Schottland gefeiertwerden. Mit dem Act of Union 1707 wurde Schottland mit England zum Königreich Großbritannien vereinigt. 1997 stimmten die Schotten für ein eigenes Parlament mit begrenzten Kompetenzen, das 1999 erstmals zusammentrat. Im Herbst nächsten Jahres dürfen sie über die vollständige Unabhängigkeit entscheiden.
Berwick-upon-Tweed stand bis zum 15. Jahrhundert immer wieder im Zentrum der schottisch-englischen Grenzkriege. Davon zeugen die Stadtmauer und die Wehranlagen am Tweed, der hier in die Nordsee fließt. „Wir haben eine Mickymaus-Ökonomie“, sagt Nicholson. „Ich habe mit einem Freund um 100 Pfund gewettet, dass die Schotten im Volksentscheid Nein sagen werden.“
Um die Frage, die den Schotten dann gestellt wird, hat es viel Gerangel zwischen dem britischen Premierminister David Cameron und dem schottischen Ersten Minister, Alex Salmond, von der Scottish National Party (SNP) gegeben. Salmond hatte sich eine Zusatzfrage zur Übertragung weiterer Rechte an das Regionalparlament gewünscht – als Hintertür, falls die Schotten die vollständige Unabhängigkeit ablehnen. Darauf ließ sich Cameron nicht ein. Die Frage lautet nun: Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?
Brücke über den Tweed
Durchgesetzt hat sich Salmond bei der Wahlberechtigung für 16- und 17-jährige sowie beim Termin. Während Cameron in diesem Jahr abstimmen lassen wollte, favorisierte Salmond einen späteren Termin. Sein Kalkül: Es ist dann nicht mehr lange hin bis zu den britischen Parlamentswahlen. Salmond rechnet damit, dass die Popularität der Londoner Regierung aufgrund ihres Sparkurses einen Tiefpunkt erreicht haben wird.
Die Union Bridge, ein Stück flussabwärts von der Furt bei Nicholsons Haus, zeugt von den raren Zeiten, als relative Zufriedenheit mit der Union beider Länder herrschte. Diese Kettenbrücke ist nicht besonders vertrauenerweckend. Es passen nur schmale und nicht zu schwere Autos darauf, aber für Autos wurde sie ja auch nicht gebaut. Jahrhundertelang mussten die Menschen durch die Furt, wenn sie von England nach Schottland – oder umgekehrt – wollten. Das war vor allem bei Flut gefährlich.
Schließlich baute Samuel Brown, ein pensionierter Kapitän, die Kettenbrücke, um zu beweisen, dass die von ihm patentierten Ketten etwas taugten. Zur Eröffnung 1820 fuhr er in einem Zweispänner über den Tweed, gefolgt von 600 Zuschauern. Der Unterhalt der Brücke wurde durch Maut finanziert. Heutzutage kümmert sich der Rat der englischen Grafschaft Northumberland um ihre Erhaltung.
„Wenn man immer noch Maut zahlen müsste, könnte ich meinen Job an den Nagel hängen“, sagt Flora, eine Blondine von Anfang vierzig. Sie arbeitet im Büro der Chain Bridge Honey Farm, in einem kleinen Gebäudekomplex neben der Brücke, wo seit 1948 Honig produziert wird. „Ich wohne in Schottland und arbeite in England“, sagt Flora. „Ich muss die Brücke jeden Tag zweimal überqueren.“ Flora ist Schottin, aber auch sie glaubt nicht an die Unabhängigkeit. „Die Sache ist nicht zu Ende gedacht“, findet sie. „Eine Trennung von England wirft so viele organisatorische Fragen auf. Salmond hat behauptet, Schottland würde automatisch EU-Mitglied, aber nun hat sich herausgestellt, dass wir erst einen neuen Antrag stellen müssen.“
Ölquellen sprudeln gar nicht so ergiebig
Die EU ist allerdings zur Achillesferse der Unabhängigkeitsgegner geworden, seit Cameron den Wählern für 2017 ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft versprochen hat. Die SNP wies auf den Widerspruch hin: In Schottland argumentiere Cameron, dass man gemeinsam stärker sei, in Sachen EU wolle er davon nichts wissen.
Aber auch die SNP erhielt vor Kurzem einen Dämpfer. Jemand im Finanzministerium hat den Unabhängigkeitsgegnern ein Geheimpapier des SNP-Finanzministers John Swinney zugespielt, in dem er ein recht düsteres Bild malt: Die Ölquellen sprudeln bei Weitem nicht so ergiebig, heißt es darin, nach der Unabhängigkeit drohe ein Defizit von 28 Milliarden Pfund, man müsse kürzen und die Beamtenschar reduzieren. Und wenn man das Pfund beibehielte, hätte die Bank von England ein Vetorecht beim schottischen Budget.
Bis Coldstream teilen sich England und Schottland den Tweed. Kurz danach biegt die Grenze nach Süden ab, während der Tweed südwestlich nach Kelso fließt. Es ist Donnerstag, Flohmarkt vor dem alten Rathaus von Kelso. Carl, ein gut gelaunter 38-Jähriger, der sich über die ersten Sonnentage des Jahres freut, verkauft Ansichtskarten und eine riesige Horrorpuppe. „Man stöpselt sie in die Steckdose, dann macht sie gruselige Geräusche und fuchtelt mit den Armen“, sagt er. 70 Pfund will er dafür haben. „Man glaubt es kaum“, sagt er, „aber ich habe die Puppe einem Altenheim abgekauft.“
Jeder Dritte will die Unabhängigkeit
Die Unabhängigkeit wäre gut für schottische Unternehmen, glaubt er. „Die US-Amerikaner mögen Schottland.“ Und für die Exporte wäre es von Vorteil, wenn auf den Waren „Made in Scotland“ stünde und nicht „Made in the United Kingdom“. Aber dazu sei es nötig, kleine schottische Unternehmen zu fördern, damit sie diesen Standortvorteil auch nutzen können, meint er. „Doch ob dazu das Geld da sein wird?“ Er werde jedenfalls mit Ja stimmen.
Bei Umfragen sagt bisher lediglich jeder Dritte, dass er das auch tun wird. „Man darf Salmond nicht unterschätzen“, meint Carl. „Er ist der einzige Politiker mit Charisma. Niemand, nicht mal die SNP selbst, hätte gedacht, dass die Partei bei den Wahlen 2010 die absolute Mehrheit gewinnen würde.“ Es ist Salmond gelungen, nicht nur Linke und Nationalisten hinter sich zu bringen, sondern auch weite Teile der Mittelschicht sowie einige Großunternehmer, die wie Salmond davon überzeugt sind, dass die Abhängigkeit von London die wirtschaftliche Entwicklung Schottlands behindert.
Von Kelso verläuft die Grenze nach Südwesten und stößt bei Gretna Green, dem legendären Heiratsparadies, wo früher Mädchen mit zwölf und Jungen mit vierzehn ohne Einwilligung der Eltern heiraten durften, auf den Solway Firth, einen Arm der Irischen See. Gegenüber, in England, liegt Bowness-on-Solway. Hier endete der Hadrianswall, eine römische Verteidigungsanlage gegen die Schotten, die Kaiser Hadrian im Jahr 122 bauen ließ. Der 120 Kilometer lange Wall verläuft ein Stück weiter südlich der Grenze in England. In Bowness-on-Solway ist von dem Wall nichts mehr zu sehen, denn der westliche Teil wurde nicht aus Steinen gebaut, sondern aus Torf.
Hadrianswall aus Beton
„Sie hätten den Wall aus Beton bauen sollen, und zwar zehn Meter hoch“, meint Paul. Er mag die Schotten nicht. „Einzeln sind sie okay, aber nicht im Rudel.“ Paul betreibt mit seiner Partnerin Gill eine kleine Firma für die Instandhaltung von Häusern und Gärten. Von der schmalen Hauptstraße in Bowness zweigen noch schmalere Gassen ab, die hinunter ans Wasser führen.
Paul und Gill kümmern sich um die Häuser, deren Eigentümer meist nur im Sommer kommen. Schottland könne ihm gestohlen bleiben, sagt Paul. „Sollen sie doch unabhängig werden, sie werden schon sehen, was sie davon haben. Seit 1999 haben sie ihr Regionalparlament, und was hat es ihnen gebracht? Sie betteln in London um Geld, weil sie nicht haushalten können.“
Paul war noch nie in Schottland. „Wir bekommen oft Aufträge aus Schottland“, sagt er und zeigt hinüber auf die andere Seite der Förde. „Das liegt ja nur ein paar hundert Meter entfernt, aber wir müssten um die ganze Bucht fahren. Das bezahlt uns keiner.“ Bis 1935 habe es eine Brücke von Bowness über den Solway Firth nach Annan gegeben, sagt Gill. Vielleicht werde sie ja wiederaufgebaut, dann könne man auch Aufträge aus Schottland annehmen? „Um Gottes willen“, stöhnt Paul, „dann kämen die Schotten ja alle rüber, weil es hier besseres Bier gibt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen