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Regierungskrise in BrasilienMachtwechsel ohne Wahl

Der Senat beschließt das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff. An ihre Stelle rückt nun der bisherige Vize Michel Temer.

Muss sechs Monate aussetzen, mindestens: Dilma Rousseff Foto: ap

Rio de Janeiro taz | Machtwechsel in Brasilien: Nach fast 14 Regierungsjahren kehrt die Arbeiterpartei PT zurück auf die Oppositionsbank. Präsidentin Dilma Rousseff, die schon während der über 20-stündigen Senatsdebatte ihren Schreibtisch im Regierungspalast räumte, ist vorläufig vom Amt suspendiert. Ihr bisheriger Vize, Michel Temer, kündigte derweil schon eine erste Regierungserklärung an.

Die Abstimmung fiel erwartet deutlich aus: 55 von 77 Senatoren stimmten für die formelle Aufnahme des Amtsenthebungsverfahrens, weit mehr als die notwendige einfache Mehrheit. Anders als bei der zirkusreifen Parlamentsabstimmung, bei der Mitte April viele Abgeordnete ihre Stimme gegen Rousseff der Familie, den Ehepartnern oder Gott widmeten, kamen im Oberhaus Argumente zur Sprache, wenn auch keine neuen.

Die Fronten sind verhärtet und eindeutig: Die bisherige Regierung und ihre Juristen sagen, das Verfahren sei ein Putsch, ein undemokratischer Machtwechsel, weil die monierte Haushaltstricks kein Verbrechen seien. Die bisherige Opposition und ihre Juristen sagen, es waren Verbrechen, und deswegen sei das Verfahren rechtens. Seit Dezember ist Brasilien wegen des Verfahrens politisch nahezu gelähmt.

Als Gast im Senat und letzter Redner der Debatte verteidigte Regierungsanwalt José Eduardo Cardoso die Präsidentin noch einmal gegen alle Vorwürfe – umsonst. Seine Heimat erklärte er jetzt zur „größten Bananenrepublik der Welt“, regiert von einer illegalen Regierung. „Eines Tages wird die Geschichte über die heutige Abstimmung urteilen, und ich werde meinen Kindern sagen können, dass ich mich für die Verteidigung der Demokratie und des Rechtsstaats eingesetzt habe“, schloss Cardoso sein Statement.

Etwas Zeit ist noch

In den kommenden sechs Monaten wird der Senat unter Leitung des Obersten Gerichts die Vorwürfe erneut prüfen. Danach ist eine Zweidrittelmehrheit der Senatoren notwendig, um in der allerletzten Abstimmung die erste Frau im höchsten Staatsamt Brasiliens endgültig aus dem Amt zu entfernen.

Brasiliens neuer Präsidenten Michel Temer plagen andere Sorgen. Aus Angst vor einem Machtvakuum kündigte er an, noch am Donnerstag die ersten Minister seines neuen Kabinetts zu ernennen. Die anschließende Regierungsansprache soll lokalen Presseberichten zufolge vor allem zwei Botschaften enthalten: Nein, die Sozialprogramme werden nicht eingestampft. Und ja, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, ist es notwendig, harte Maßnahmen zu ergreifen.

Mangelnde Popularität

Bei der Regierungsbildung steht Temer bereits von dem gleichen Problem wie Rousseff und Lula vor ihm. Alle Parteien seiner Koalition, die aus der ehemaligen bürgerlichen Opposition und Überläufern – auch seine PMDB kehrte Rousseff erst im März den Rücken – besteht, haben viele Personalwünsche. Um dem entgegenzukommen, verzichtete Temer bereits auf die angekündigte Fachleute-Regierung und verteilt die einflussreichen Regierungsposten nach Parteienproporz. Auch ist fraglich, ob es ihm wirklich gelingen wird, einige der 32 Ministerien einzusparen.

Das größte Problem des 75-jährigen Juristen ist aber seine mangelnde Popularität. Er ist ähnlich unbeliebt wie Rousseff, und eine große Mehrheit plädiert gar dafür, dass er wie sie abgesetzt werden sollte. Nicht nur weil er lange Zeit ihre Politik mittrug, sondern auch, weil er die alte politische Garde repräsentiert, die den meisten Brasilianern seit langem suspekt ist. Dass Misstrauen geht so weit, dass befürchtet wird, die aufsehenerregenden Korruptionsermittlungen könnten unter Temer behindert werden. Denn seine PMDB und einige Koalitionsparteien stehen ähnlich wie die PT im Verdacht, systematisch öffentliches Geld in die eigenen Taschen umgeleitet zu haben.

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9 Kommentare

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  • Wieder einmal viel zu brav recherchiert. 75 % der Korruptonsermittlungen gehen an Abgeordnete und Senatoren der jetzt die Macht ergreifenden Parteien, 25 % an die Abgeordenetn und Senatoren der aktuellen Regierung. Die ausgemacht Korrupten ergreifen die Macht duch eine illegalen politisch-juristischen Winkelzug, der von dem am Putsh beteiligten Oberstn Gerichtshof gedeckt wird. Während Präsidntin Dilma Budgetmanipulationen vorgeworfen wrden, sind bei dem neuen Präsdenten Temer Korruptionsverfahren anhängig und er ist rechtskräftig als nicht frei wählbar veurteilt - die Nachfolge ist also ein juristischer Treppenwitz. Dr Senat hat schon mit 2/3 Mehrheit für das Impeachment abgestimmt - man brach also gar nicht länger auf eine 2. Entscheidung warten. Personen mit Korruptionsverfahren sollen in der zukünftigen Regierung Temer Minister werden. Das ist absolut skandalös, den Bock zum Gartner zu machen. Das ist nicht "ähnlich wie die PT" sondern vielmals schlimer als die Abgeordnete der PT, denen man Verfehlungen nachweisen konnte. Hier macht sich die TAZ doch wieder zu sehr die Interpretation von "O Globo" zu eigen, die plötzlich die PT als Ausgeburt der Koruption darstelt, damit die Welt die Augen vor den schon immer Korrupen schliesst, die wieder nach der Macht greifen. Etwas klarere Worte wären hilfreich.

    • @Henning Lilge:

      1) Taz ... zu sehr "OGlobo";



      2) Etwas klarere Worte wären hilfreich;







      Da kann einem der Behn Andreas noch leid tun. Denn wer sich nicht zack-zack auf eine Seite schlägt und somit das andre Auge "opfert" bzw. - brasilianisch - Preis gibt, denn was als Politik mogeletikettiert ist, bedeutet Schacher, meistens illegalen, sondern umsichtig denn grupensoldatig denkt, dem droht der Donnerhagel von allen (Mafia- bzw. Verblendeten-) Seiten.



      Taz hat selbstkultürlich nicht nur nichts mit dem Medienkonzenr Globo am Stecken, sondern im Gegenteil, sieht den abgeholzten Wald vor lauter umgefallenen Pinocchiolinken nicht bisweilen).



      Aber das, lieber Henning, fürchte ich verstehst/siehst Du nicht. Auge weg (siehe oben).



      Unser Oberster Gerichtshof putscht nicht. In ihm sitzen mit solider Mehrheit Fachleute, die (warum wohl?) von Lula und Dilma ernannt wurden. Aber angesichts der grössten Korruptionsmaschine seit der Diktatur..., und starkem Unmut unterm Volk (und zwar aller Scichten), können sie halt ihre Augen nicht mehr zudrücken. Trotzdem es nun ihren Förderern an den Kragen geht. Recht ist nun mal Recht. Und schienbar beginnt sich das un auch bei uns rumzusprechen (amen!).



       

      Kommentar bearbeitet. Bitte beachten Sie die Netiquette.

      • @Ardaga:

        brasilianische Justiz: O ministro Gilmar Mendes, do Supremo Tribunal Federal, suspendeu nesta quinta-feira (12) a coleta de provas de uma investigação aberta sobre o senador Aécio Neves (PSDB-MG) relacionadas a supostas irregularidades na estatal Furnas. Na mesma decisão, ele enviou o inquérito de volta ao procurador-geral da República, Rodrigo Janot, para reavaliação.

        • @Henning Lilge:

          Hier die Übersetzung für nicht portugiesisch lesende : Der Minister Gilmar Mendes, des Overstern Gerichtshofesm hat Freitag(12.05.) das Einsammeln der Beweise einer offenen Untersuchung über den Senator Aecio Neves suspendiert, die sich auf vermutete Unregelmässigkeiten in der staatlichen FURNAS beziehen. In derselben Entscheidung sandte derselbe Richter die Untersuchug an den Generalstaatsanwalt der Republik Rodrigo Janot zurück mit der Bitte um "Neubewertung". Zur Erklärung : Aecio Neves war der Konkurrent bei der Wahl Dilmas zur Präsidentin und der erhoffte neue Kandidat für die nächste Wahl der die jetzt die Macht ergreifende Opposition. Temer hat sich mit ihm bei der Vorstellung seines Kabinetts ablichten lassen. Neves steht mehrfach unter Korruptionsverdacht. So viel zu "Unabhängigkeit" des Obersten Gerichts.

      • @Ardaga:

        zur Klärung : die TAZ ist nicht "O Globo" aber sie zitiert "o Globo" als "Oppositionszeitung" als macht nicht deutlich, dass "O Globo" und ihr Inhaber die Militärdiktatur unterstützt hat. Sie gibt nur halbe Informationen und macht die mangelnde Neutralität der brasilianischen Gerichte und die Maipulation einer oligopolistischen Presse nicht deutlich. Die brasilianische Mittelschicht ist "unmutig", weil sie Einkommensverluste hinnehmen musste. Was ist denn mit der brasilianischen Unterschicht, die seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde? Das hat die brasilianische Mittelschicht nie gekümmert. Ganz im Gegenteil: je geringer der Mindestlohn um so mehr Hausmädchen, Gartner, Putzfrauen etc. konnte man sich leisten. Zur Information : ich habe als Geschäftsführer eines brasilianischen Unternehmens 2 Jahre in Brasilien gelebt.

        • @Henning Lilge:

          Lieber Henning, amigo,..., tudo bom mesmo bzw. sag geht's Dir gut? Erklärst Du gern den Menschen der Länder/Kulturen wo diese ihr Leben leben wie's dort läuft? Gehst Du also davon aus, dass Du mit All-Wissen gesegnet bist und die anderen Deiner Nachhilfe bedürfen?

           

          Ich denke, es würde Dir und (den) anderen bestimmt gut tun, wenn Du Dein Inneres Bremspedal entdecktest. Auch Lesen ist keine schlechte Therapie. Vor allem richtiges Lesen. Dann würden Dir vielleicht solche Lapsi nicht mehr unterlaufen:

          "Die obersten Richeter haben erklärt, dass Dilma sich mit falschen Angaben sich ihr Wahl erschlichen habe, Temer als ihr Vize damit aber nichts zu tun habe".

          Das ist totaler Nonsense. Für Portugiesischversteher: http://www1.folha.uol.com.br/poder/2016/04/1757295-stf-nao-pode-obrigar-analise-de-impeachment-de-temer-diz-camara.shtml

           

          Für Dich: Gerade der STF (Oberster Gerichtshof mit einer Mehrheit von von Lula und Dilma eingesetzen Richtern, pardon ich wiederhole mich, aber es scheint, in manche Köpfe geht das nicht leicht rein) hat ja mehrmals versucht (Richter Marco Aurélio) in diese Richtung vorzustossen. Allein, der (damalige) Präsident des Abgeordnetenhauses, der laut Verfassung die Untersuchung einleiten und zur Abstimmung bringen muss (der Höchste hat da gar nix zu melden, bloss wenn was nicht verfassungsgemäss passiert!), bevor etwaiger Pro-Impeachmentbeschluss weiter an den (verfassungsgemäss) entscheidenden Senat geht, hat alle Vorstösse in dieser Richtung mit macchiavellischem Bravour abgewehrt.

          Nun aber ist auch er weg vom Machtfenster. Und also hoffen wir wieder (einmal): Vielleicht können wir uns ja doch noch mittelfristig von allen unsren gewählten Raubmördern wieder befreien. Den Pinocchio-Linken übrigens auch. Denn sie sind alle bloss Etikettenträger. (Was mensch draussen/Touri/BesucherIn in der Regel nicht versteht/verstehen kann.)

           

          Herzliche Grüsse, immer tief durchatmen, und vor allem: SEM MAIS!

          • @Ardaga:

            Und jetzt wird es interessant : Folha de S. Paulo ist eine brasilianische Tageszeitung und erscheint in São Paulo. Mit einer Druckauflage von 296.224 (2012) Exemplaren hat sie die zweitgrößte Reichweite aller Tageszeitungen Brasiliens. Die Folha gehört inzwischen zur Grupo Folha, einer der landesweit wichtigsten Medienkonzerne, die neben dem Hauptblatt eine 50 %-Beteiligung an Valor Economico,[2] in Partnerschaft mit der Organisation Globo hat. Beide Unternehmen sind führend im brasilianischen Journalismus, sowohl in den Segmenten des populären Journalismus, als auch im Wirtschaftsjournalismus (aus Wikipedia) - sieh da: Partnerschaft mit "O Globo". Und auch in Wikipedia zu lesen: Unterstützung der Militärdiktatur durch Folha de Sao Paulo.

          • @Ardaga:

            Ich glaube nicht das Details zu meinem Gemütszustand noch zu meiner Belesenheit oder Informiertheit oder wie ich atme einer Diskussion zuträglich sind. Argumentieren ist das Gebot der Stunde. Alles andere vernebelt die Urteilskraft und ist überflüssig.

      • @Ardaga:

        Zur Versachlichung: Im Obersten Gerichtshod sitzen Richter die sowohl von der Regierung Dilma, Regierung Lula oder vorherigen Regierungen ernannt wurden. Es sitzt darin ein Richetr, der das illegal Abhören nachträglich nicht nur für legal sondern auch dessen Veröffentlichung für Rechtens erklärt hat. In Deutschland durften Beweise zum Verbot der NPD deshalb nicht benutzt werden, weil diese illegl erworben wurden. Das ist Rechtsstaat! Die obersten Richeter haben erklärt, dass Dilma sich mit falschen Angaben sich ihr Wahl erschlichen habe, Temer als ihr Vize damit aber nichts zu tun habe. Das ist doch haushoher Unsiin und eines Obersten Gerichtes unwürdig. Zur Klärung: alle die unter Korruptionsanklage stehen , gehören untersucht und falls für schuldig gefunden verklagt. Cunha steht unter Anklage für über 100 Jahre Gefängnis,. Wo ist der ehrenwerte Gerichtshof der einem unwürdigen Präsidenten Temer das Amt versperrt. Das Volk kann jetzt gleich auf der Strasse kampieren, wenn Minister unter Korruptionsanklage das Land regieren. Wenn man weiss das über 300 Abgeordnete des brasilianischen Parlaments unter Korruptionsanklage stehen, mehrheitlich der jetzt die Macht ergreifenden Parteien - was macht den der Oberste Gerichtshof, damit diese möglichst bald verurteilt weren und aus dem Parlament entfernt weden? Das ist über die Hälfte aller Abgeordneten, die jetzt mehrheitlich für die Rettung der Demokratie und gegen (ihre eigene?) Korruption gestimmt haben. Das Impeachment als Katharsis damit die wirkliche Korruption nicht mehr beachtet wird?