Nahost-Konflikt: Regelmäßiger Dialog reicht nicht aus
Die EU mahnt Israel, sieht aber von konkreten Maßnahmen ab. Derweil geht die Vertreibung im Westjordanland weiter, und die Not in Gaza spitzt sich zu.
D ie palästinensischen Gebiete gerieten über den Krieg zwischen Israel und Iran in den Schatten der Weltöffentlichkeit. Gleichzeitig verschlechtert sich die Lage stetig. Im Gazastreifen setzt Israel seine Kampagne der ethnischen Säuberung fort. Nahezu täglich schießen israelische Soldaten auf die Menschen an den Verteilstationen. Weit über 400 Palästinenser und Palästinenserinnen sollen bislang zu Tode gekommen sein.
Kaum 50 Kilometer entfernt riegelte die israelische Armee das Westjordanland ab und errichtete weitere Kontrollpunkte, die die Bewegungsfreiheit der 3,2 Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen in diesem Gebiet massiv einschränken. Hinzu kommen die fortgesetzte systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur in den Flüchtlingslagern und die schleichende Annexion palästinensischer Gebiete. All diese Maßnahmen untergraben den Weg zu einer Zweistaatenlösung.
Israel festigt das Apartheidregime in den besetzten Gebieten und macht jede Lösung des Konflikts zur Utopie. Die militärische Aggression im Westjordanland führt zu weiterer Destabilisierung. Die Europäische Union sollte endlich konkrete Maßnahmen gegen die Übergriffe in den palästinensischen Gebieten ergreifen. Die bisherige Haltung der EU, mit Israel in einen Dialog zu treten anstatt Sanktionen zu erwägen, hat nicht dazu geführt, die Brutalität der Besatzung im Westjordanland zu stoppen oder auch nur einzuschränken.
Die EU hat zwar die Expansion der Siedlungen und die Vertreibung von Beduinengemeinschaften im besetzten palästinensischen Gebiet ebenso verurteilt wie Forderungen von Koalitionspolitikern, die Moschee auf dem Tempelberg zu zerstören. Konkret kam daraufhin aber nicht mehr als der Vorschlag, einen „regelmäßigen und strukturierten Dialog mit der israelischen Regierung über diese Fragen“ zu führen. Ohne Erfolg.
Sanktionen nur gegen Einzelne
Ähnlich lief die Diskussion der Mitgliedsstaaten Anfang 2020 ins Leere, als es darum ging, die Finanzierung der Europäischen Nachbarschaftsinitiative für Israel zu überdenken, die Handelsvereinbarungen zu überprüfen und das Assoziierungsabkommen als Reaktion auf die israelischen Schritte zur Annexion von Teilen des Westjordanlandes auszusetzen.
Letzthin rechtfertigte der EU-Assoziationsrat ein Treffen mit Israel damit, es sei eine Gelegenheit, die Beziehungen zu überprüfen und die Notwendigkeit eines Waffenstillstands im Gazastreifen und eines ungehinderten Zugangs für humanitäre Hilfe zu bekräftigen. Man wolle den Dialog aufrechterhalten und kein Tribunal für Israel abzuhalten, verlautete von Delegierten. Nur wenige Wochen später nahm Israel seine Zerstörungskampagne im Gazastreifen wieder auf und blockierte fast drei Monate lang die Lieferung humanitärer Hilfe.
Im Westjordanland hat die israelische Regierung unterdessen die Annexion von Gebieten weiter vorangetrieben und ihre Vision der „jüdischen Vorherrschaft“ über die Palästinenser zementiert. Die EU hat im März dieses Jahres erneut umfassende wirtschaftliche Maßnahmen gegen Israel ins Gespräch gebracht, als sie erklärte, sie werde ihr Assoziierungsabkommen überprüfen und möglicherweise europäischen Unternehmen die Tätigkeit im israelisch besetzten Westjordanland untersagen.
Übrig geblieben sind Sanktionen gegen eine Handvoll Einzelpersonen und Einrichtungen der Siedlerbewegung. Die israelischen Streitkräfte sind dabei, die Architektur des Westjordanlandes aktiv umzugestalten. Mit der im Januar begonnenen Operation „Eiserne Mauer“ wird die Räumung von Flüchtlingslagern erzwungen, in denen bewaffnete palästinensische Gruppen untergebracht sind. Mindestens 40.000 Menschen sind vertrieben worden.
Vertreibung aus „Groß-Israel“
Israels Armee geht mit einem präzedenzlosen Ausmaß von Brutalität im Westjordanland vor, bombardiert aus der Luft und setzt Drohnen zum Angriff ein. Offizielle Begründung ist die Verfolgung palästinensischer Milizen. Tatsächlich treibt die Operation einen größeren Plan der israelischen Extremisten voran. Die Hardliner in der Regierung wollen die israelische Kontrolle festigen und die Palästinenser verdrängen, um ein „Groß-Israel“ zu schaffen.
Die Sorge der Palästinenser im Westjordanland wächst, dass Israel rechtsextreme Drohungen wahr machen und sie in die Nachbarländer zwangsumsiedeln könnte, was, wie jordanische Beamte gewarnt haben, ein existenzielles Risiko für die Stabilität ihres Landes wäre und als „Kriegshandlung“ angesehen werden würde. Die Vertreibung wird zudem durch die israelischen Gesetzesreformen vorangetrieben, um Landenteignungen in den noch besetzten Gebieten zu erleichtern.
Von den Maßnahmen ist auch die palästinensische Gemeinschaft in Ostjerusalem betroffen. Im Mai wurde der umstrittene „E1“-Plan zum Bau von 3.412 Wohneinheiten für israelische Siedler wieder aufgegriffen. Die EU lehnt den Bau ab, der den Ring von Siedlungen rund um Jerusalem perfekt machen und so die palästinensische Bevölkerung in Ostjerusalem vom Westjordanland abschneiden würde. Zudem bedeutet der Bau die Vertreibung der dort lebenden Beduinen.
Die Pläne für das E1-Gebiet sind gut 30 Jahre alt, wurden aufgrund von internationalem Protest aber immer wieder auf Eis gelegt. Ebenfalls im Mai genehmigte Israel den Bau von nicht weniger als 22 neuen Siedlungen, einschließlich der Anerkennung bestehender informeller und auch aus israelischer Sicht bislang illegaler Siedlungen. Die Zukunft für die Palästinenser im Westjordanland sieht düster aus.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird vor allem in linken Kreisen kontrovers diskutiert. Auch in der taz existieren dazu teils grundverschiedene Positionen. In diesem Schwerpunkt finden Sie alle Kommentare und Debattenbeiträge zum Thema „Nahost“.
Keine einheitliche Haltung in der EU
Die Zerstückelung, Schrumpfung und Isolierung der palästinensischen Gebiete und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen werden die Fähigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), das begrenzte Gebiet, das sie angeblich kontrolliert, zu verwalten, stark beeinträchtigen. Seit Jahren befindet sich die PA in einer hartnäckigen Finanzkrise. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas genießt in den Augen der Palästinenser kaum noch Legitimität.
Da die Palästinenser durch die israelische Gewalt – angetrieben durch das Projekt Groß-Israel – zunehmend brutalisiert werden und sich die Bedingungen ihres täglichen Lebens verschlechtern, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie früher oder später nach neuen Formen des bewaffneten Widerstands suchen. Auf der Tagung des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ am 23. Juni konnten sich die Mitgliedsstaaten der EU wieder nicht einigen. Das Assoziierungsabkommen hat weiterhin Bestand.
Letztendlich wird auch die jüngste Konfrontation zwischen Israel und Iran dazu beitragen, von Maßnahmen gegen die israelische Politik im Westjordanland und vor allem gegen das militärische Vorgehen der Armee im Gazastreifen vorläufig abzusehen. Dies wäre jedoch ein Fehler. Die besetzten palästinensischen Gebiete sind seit langem ein regionaler Krisenherd, insbesondere in den letzten 20 Monaten.
Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs sich ernsthaft mit der eskalierenden Unsicherheit auseinandersetzen und ihre politische Glaubwürdigkeit in der Region bewahren wollen, müssen sie Israel in irgendeiner Form zur Rechenschaft ziehen für Handlungen, die eindeutig gegen die eigenen Menschenrechtsstandards und die seit langem bestehenden roten Linien der EU verstoßen.
Handelsstopp mit Siedlungsbetrieben
Die Mitgliedsstaaten müssen Maßnahmen ergreifen, um Druck auf Israel auszuüben, damit nicht nur die brutalen Angriffe und die Beschränkungen für die Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen enden. Auch das brutale Vorgehen des Militärs im Westjordanland muss aufhören, um die drohende Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung zu verhindern.
Der diplomatische Druck, der von der Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Norwegen, Irland, Spanien und später Slowenien ausging, blieb leider genauso unwirksam, um Israel diplomatisch unter Druck zu setzen, wie frühere Anerkennungen durch europäische Staaten. Um zu verhindern, dass Israel die territoriale Grundlage eines künftigen Staates Palästina untergräbt, sind substanziellere Maßnahmen erforderlich.
Mangelnde Einstimmigkeit in der EU aufgrund der anhaltenden Unterstützung Israels durch Länder wie Ungarn bedeutet, dass eine vollständige Aussetzung des Assoziierungsabkommens unwahrscheinlich ist. Eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten könnte jedoch immer noch Teile des Abkommens aussetzen, die sich auf präferenzielle Handelszölle und den Zugang Israels zu Programmen wie Horizon Europe beziehen. Dies würde dazu beitragen, Israel wegen seines Vorgehens im Gazastreifen und im Westjordanland einen Preis aufzuerlegen.
Es kann auch mehr getan werden, um gegen das Siedlungsprojekt Israels vorzugehen, das im Westjordanland schon lange im Gange ist und aktuell sogar für den Gazastreifen erneut relevant zu werden scheint. Ein Handelsverbot mit jüdischen Betrieben im Westjordanland und ein Verbot von Investitionen in Siedlungen sind Maßnahmen, die auch mit qualifizierter Mehrheit umgesetzt werden könnten. Möglich wäre zudem die Ausweitung bestehender Sanktionen auf israelische Einrichtungen wie die Siedlungsräte.
Wenn die EU Schritte unternimmt, um israelische Verstöße gegen internationale Normen einzudämmen, könnte das Staatenbündnis auch endlich beginnen, seine Ambitionen als geopolitischer Akteur zu verwirklichen, der in der Lage ist, einen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf der Weltbühne geltend zu machen. Anstatt Israel immer wieder zu ermöglichen, die roten Linien der EU zu überschreiten, ohne dass Konsequenzen zu fürchten sind, sollten die Mitgliedsstaaten dagegen vorgehen, um die regionale Stabilität zu festigen und eine Zweistaatenlösung zu unterstützen.
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