Reform des Sexualstrafrechts: Nein bleibt Nein
Seit fünf Jahren sind alle sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person strafbar. Doch noch immer werden viele Verfahren eingestellt.
I rgendwo in Deutschland, irgendwann im Jahr 2012. Eine schwangere Frau sitzt auf der Couch, ihr Freund will mit ihr schlafen. Sie will nicht und sagt ihm das auch. Er zieht sie vom Sofa hoch und schubst sie ins Schlafzimmer, sie fällt auf den Boden und gegen das Bett. Weil ihr Freund schon früher aggressiv war, Gewalt gegen ihre Katze und Gegenstände ausgeübt hat und sie zudem Angst um das Kind in ihrem Bauch hat, zieht sich die Frau aus. Es kommt zum Sex. Sie wiederholt mehrfach, dass sie keinen will, Schmerzen hat und er aufhören soll. Sie schreit, sie fleht.
Als alles vorbei ist, zeigt die Frau den Mann wegen sexueller Nötigung an. Doch das Verfahren wird eingestellt. Die Begründung der Staatsanwaltschaft: Der Mann habe weder Gewalt angewendet noch seiner Freundin gedroht – und Widerstand geleistet habe sie auch nicht. Von einem „Klima der Gewalt“ in der Beziehung sei nicht auszugehen. Und in einer „schutzlosen Lage“, die im Sinn der Strafnorm nötig sei, habe sich die Frau auch nicht befunden. Schließlich sei die Wohnungstür ja nicht abgeschlossen gewesen.
Diesen Fall schildert der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe zusammen mit 106 weiteren Fällen von sexualisierter Gewalt in einer Analyse von 2014. Alle Täter in den beschriebenen Fällen wurden angezeigt, keiner wurde verurteilt. Denn im Sexualstrafrecht gilt damals der seit Langem unveränderte Paragraf 177.
Und der besagt: Sexuelle Nötigung ist dann strafbar, wenn der Täter das Opfer mit Gewalt, Drohung gegen Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage dazu bringt, sexuelle Handlungen an sich zu dulden. Nicht strafbar also sind all die Übergriffe, bei denen es zu sexuellen Handlungen gegen den Willen der geschädigten Person kommt – auch dann nicht, wenn dieser ausdrücklich artikuliert wird.
„Jahrzehntelang war klar, dass da etwas falsch läuft“, sagt die Strafrechtsanwältin Christina Clemm über diese alte Form des Paragrafen. Oft waren Betroffene entsetzt, wenn ihnen klar wurde, welche sexualisierten Übergriffe alle nicht strafbar sind. Zwar fordern frauenpolitische Organisationen seit Langem eine Änderung des Strafrechts.
Doch in die Sache kam erst Bewegung, als 2014 die Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen in Kraft trat. Denn dieses Übereinkommen des Europarats besagt unter anderem, dass alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen unter Strafe gestellt werden müssen. Auch Deutschland hat die Konvention unterzeichnet. Um sie auch hierzulande letztlich ratifizieren zu können, mussten alle Bundesgesetze der Konvention angepasst werden.
„Es war klar: das ist unsere Möglichkeit“, sagt Clemm. Verbände wie der Deutsche Frauenrat, der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, die Dachverbände der Frauenhäuser und UN Women tun sich zusammen, Grüne und Linke bringen aus der Opposition Gesetzesvorschläge ein. Das Bundesjustizministerium setzt zwar eine Reformkommission für das Sexualstrafrecht ein – aber noch immer tut sich nichts. Und dann kommt Köln.
In der Silvesternacht 2015 auf 2016 kommt es in der Nähe von Hauptbahnhof und Dom zu Übergriffen auf Frauen durch vorwiegend migrantische Täter. 661 Frauen melden Straftaten, bei 28 geht es um versuchte oder vollendete Vergewaltigung. „Auf einmal ging es rasend schnell“, sagt Clemm, die auch Mitglied der Reformkommission des Justizministeriums war. Schon im Juli stimmt der Bundestag für die Neufassung des Paragrafen 177 Strafgesetzbuch – einstimmig. Ein historischer Moment. Seit Inkrafttreten des Gesetzes am 10. November 2016 gilt in Deutschland zum ersten Mal „Nein heißt Nein“.
„Nein heißt Nein“, das bedeutet: Nicht mehr nur physische Gewalt ist strafbar – sondern jede sexuelle Handlung gegen den „erkennbar entgegenstehenden Willen“ des Opfers. Zudem wird Paragraf 184 i neu eingeführt: Zum ersten Mal wird sexuelle Belästigung als eigener Straftatbestand anerkannt. Und schließlich entsteht Paragraf 184 j, der Taten aus Gruppen heraus unter Strafe stellt – eine Reaktion auf die Kölner Silvesternacht.
Fünf Jahre später zeigt sich, dass die Ermittlungsverfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den Jahren nach der Reform gestiegen sind. 2014 und 2015, also vor der Reform, waren es laut Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz jeweils knapp 39.000 Verfahren. 2019 und 2020 waren es knapp 57.000 und 58.000 Verfahren. Auch die Verurteilungen wegen Paragraf 177 stiegen von 2014 bis 2019 deutlich an. Waren es 2014 noch 1.001 Verurteilungen, waren es 2019 schon 1.599.
Dass die Zahlen insgesamt steigen würden, war allerdings zu erwarten – vor allem aufgrund des neuen Straftatbestands der sexuellen Belästigung, die vorher überhaupt nicht strafbar war. Die Zahlen der Verurteilungen zeigen auch, welchen großen Anteil die neu hinzugekommenen sexuellen Belästigungen an den gestiegenen Zahlen haben: ganze 1.519 von 1.599 Verurteilungen erfolgten deshalb.
„Die Einführung des Straftatbestands der sexuellen Belästigung war ein großer Erfolg“, sagt der Rechtswissenschaftler Jörg Eisele von der Universität Tübingen. Häufig fänden Belästigungen im öffentlichen Raum statt, in Schwimmbädern, in der Bahn – entsprechend gibt es Zeug:innen, die für Verurteilungen förderlich sind. „Mit dem 184 i bekommt man Alltagsgrapschereien gut in den Griff.“
Ein Flop dagegen sei der Paragraf 184 j, der wegen Köln eingeführt wurde. „Dass der keinen Mehrwert hat, war absehbar“, sagt Eisele: zu kompliziert, inhaltlich außerdem durch andere Paragrafen bereits weitgehend abgedeckt. Gerade mal zwei Verurteilungen, so zeigen es die Zahlen des BMJV, gab es wegen dieses neuen Paragrafen im Jahr 2019.
Doch was die eigentliche Reform des Paragrafen 177 jenseits dieser beiden neu eingeführten Paragrafen angeht, sind die Zahlen bislang nicht unbedingt aussagekräftig. Das weiß auch das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. Zwar sei die Reform im Sexualstrafrecht ein „Paradigmenwechsel“ gewesen, so das BMJV: Erstmals wird der „Wille des Opfers […] in das Zentrum des strafrechtlichen Schutzes gerückt“.
Auch die Rückmeldungen aus der Praxis gegenüber dem Ministerium seien „ganz überwiegend positiv“: Richter:innen sowie Staatsanwält:innen würden berichten, so eine Sprecherin des BMJV, dass sie mit den Neuregelungen gut zurecht kämen. Und dennoch: Für eine umfassende Beurteilung der Reform sei es zu früh.
So sieht es auch der Kriminologe Christian Pfeiffer, der seit den 90er Jahren zu Sexualstraftaten forscht. „Die Reform war wichtig, weil das ‚Nein‘ der Betroffenen endlich ernst genommen wird“, sagt er. „Aber es fehlt die Empirie, um beurteilen zu können, was sie für die Strafverfolgung bedeutet.“ Noch gebe es dazu schlicht keine systematische Analyse.
Pfeiffer hat deshalb eine Studie begonnen, in der 3.000 Frauen, die in Niedersachsen eine Vergewaltigung angezeigt haben, zu ihren Erfahrungen befragt werden. Die Hälfte der Frauen zeigte vor, die andere Hälfte nach der Reform an. Untersucht werden soll unter anderem, wie unterschiedlich die Frauen die Anzeigen erlebten und ob sie mit dem Ablauf nach der Anzeige zufrieden waren. Eine Auswertung der Befragungen soll in einigen Monaten vorliegen.
Anwält:innen und Betroffenenorganisationen ziehen derweil gemischte erste Bilanzen. „Für uns war es zwar bitter, dass die Reform mit Köln letztlich vor einem eindeutig rassistischen Hintergrund gepusht wurde“, sagt etwa Katharina Göpner vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. Gleichzeitig sei sie in jahrelanger Arbeit vorbereitet worden und grundsätzlich ein Erfolg: „Gesellschaftlich hat die Strafrechtsänderung immens viel bewegt.“
Es sei ganz anders möglich geworden, über sexualisierte Gewalt zu sprechen und sie zu verhandeln. Die im Verband organisierten Beratungsstellen würden übereinstimmend berichten, „dass Betroffene mit einem anderen Selbstbewusstsein Ereignisse öffentlich machen und sich häufiger überlegen, anzuzeigen“.
Gleichzeitig gebe es weiter Probleme, sagt Göpner. Die beträfen allerdings nicht so sehr das Gesetz an sich – sondern Besonderheiten, die Sexualdelikte vor Gericht in den weitaus meisten Fällen begleiten. „Wenn die Betroffenen vorher nachweisen mussten, dass sie sich zur Wehr gesetzt haben, müssen sie jetzt nachweisen, dass sie ihr,Nein' formuliert haben“, sagt Göpner. Möglich also, dass der Täter sich auf den Standpunkt stellt, das „Nein“ weder gehört noch erkannt zu haben.
In einem Bericht eines Bündnisses aus NGOs, dem unter anderem der Deutsche Juristinnenbund und der Deutsche Frauenrat angehören und der bereits im Februar veröffentlicht wurde, heißt es zu den Praxiserfahrungen nach der Reform: „Erfahrungen von Rechtsanwält:innen, Fachberatungsstellen und psychosozialen Prozessbegleiter:innen zeigen, dass zahlreiche Verfahren eingestellt werden, weil der Vorsatz der sexuellen Handlung gegen den eigenen Willen häufig nicht angenommen wird – selbst wenn Betroffene angeben, geweint oder den Beschuldigten deutlich und wiederholt gebeten haben, aufzuhören.“
So werde durch alle Instanzen hindurch immer wieder entschieden, dass ein deutlich verbal ausgedrücktes „Nein“ für einen Beschuldigten nicht zwingend als entgegenstehender Wille angesehen werden könne, wenn etwa die betroffene Person vorher sexuelle Handlungen mitgemacht oder initiiert habe. In einem Fall etwa stimmte die Betroffene zunächst verschiedenen sexuellen Praktiken zu. Als der Mann gewalttätig wurde, brachte sie jedoch ihren Widerwillen zum Ausdruck.
Doch die Verurteilung des Täters durch das Landesgericht hob der Bundesgerichtshof auf. Die Begründung: Dass sich die „verbalen und physischen Versuche“ der Frau, den Angeklagten zum Aufhören zu bewegen, auch auf Oral- und Analverkehr bezogen, sei nicht eindeutig. Auch der „Umstand, dass die Geschädigte vor Schmerzen schrie und der Angeklagte ihr zeitweise den Mund zuhielt“, habe möglicherweise nur mit dem Zufügen von Schmerzen durch Schläge zu tun, nicht mit Geschlechtsverkehr als solchem.
Strafrechtsanwältin Christina Clemm
Ihrer Erfahrung nach, berichtet Anwältin Clemm, würden rund zwei Drittel der Fälle eingestellt, von denen sie sagen würde, sie müssten nach Paragraf 177 verurteilt werden. Dies sei immer noch besser als vor der Reform – denn vorher wurden noch mehr dieser Fälle eingestellt. „Die Änderung war zweifellos richtig“, sagt Clemm. „Aber eine wesentliche Verbesserung gibt es für die Betroffenen noch nicht.“ Ein Problem sei, dass insbesondere im Bereich der Sexualdelikte oft patriarchal geprägte Vorannahmen herrschten.
Etwa die, dass Betroffene Sexualdelikte anzeigen, weil sie Vorteile daraus erlangen – also zum Beispiel auf Schmerzensgeld aus seien oder den Umgang des ehemaligen Partners mit den Kindern verhindern wollten. Häufig fände sich auch die Annahme, dass Frauen dazu neigen, ihr Verhalten im Nachhinein umzudeuten. Eigentlich konsensuale Sexualkontakte würden deshalb später als deutlich erkennbar gegen den Willen umdefiniert, entsprechend würde falsch berichtet, so das Vorurteil.
Vielleicht, so werde angenommen, war ihr Nein eben doch ein Ja. Vielleicht war das Nein auch nicht deutlich genug ausgesprochen. Und vielleicht war die Aussage, dass sie geweint habe, im Nachhinein erfunden, weil sie erst dann gemerkt habe, dass sie die betreffende sexuelle Handlung gar nicht wollte. Vielleicht habe sie auch nur Rache nehmen wollen für eine nicht erwiderte Liebe – all so etwas geistere immer wieder in den Köpfen derjenigen herum, die die Verfahren betreiben, sagt Clemm.
Zudem gebe es noch immer eine bestimmte Vorstellung davon, wie ein Opfer zu sein habe. Eine ihrer Mandantinnen etwa hatte sich über eine Dating-Plattform mit einem Mann verabredet. Sie zeigte ihn wegen Vergewaltigung an, er wurde freigesprochen. In der Urteilsbegründung, so Clemm, habe das Gericht angeführt: Gegen ihre Aussage spreche, dass sie sich ja auch nach der Tat weiter anonym mit Männern getroffen habe. Das sei für eine tatsächlich vergewaltigte Person nur schwer vorstellbar.
„Frauen zeigen sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigungen an, weil sie verletzt sind, weil sie andere schützen oder nicht hinnehmen wollen, dass ihnen Schlimmes widerfahren ist“, sagt Clemm. „Aber ich kenne keine einzige Frau, die durch einen Prozess Karrierevorteile gehabt hätte.“ Und natürlich müsse die Unschuldsvermutung gegenüber einem potenziellen Täter gelten. „Es muss aber eben auch die Vermutung gelten, dass die anzeigende Frau die Wahrheit sagt. Mit dieser Situation können und müssen wir umgehen.“
Strafrechtlich sei dem allerdings kaum beizukommen. „Was wir wirklich brauchen, ist eine viel größere Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Gewalt“, sagt Clemm. Es brauche Forschung: wie viele Täter werden verurteilt, wo liegen die Probleme, was sind typische Fallkonstellationen?
Es brauche Fortbildungen von Polizei und Justiz: Wie häufig kommen Übergriffe vor, wie verhalten sich Täter, wie verhalten sich Betroffene – und warum? Und es brauche eine Aufstockung der Kapazitäten innerhalb der Behörden. „Die Dezernate in Polizei und Justiz sind katastrophal unterbesetzt“, sagt Clemm. „Da ist es natürlich einfacher, einzustellen, als eine Anklage zu verfassen und den Fall auch noch vor Gericht zu vertreten.“
Um mehr Forschung kümmert sich unter anderem der Kriminologe Pfeiffer. Seine Hypothese dabei sei, sagt er: „Die Strafverfolgung funktioniert dort gut, wo sie personell und technisch gut ausgestattet ist.“ So gehe er davon aus, dass etwa Videobefragungen der Opfer einen hohen Mehrwert brächten. Wenn dagegen die Aussage nur auf Tonband aufgezeichnet wird oder gar nur als gekürzte Mitschrift der Polizei an die Staatsanwaltschaft geht, „erhöht sich das Risiko deutlich, dass dort das Verfahren eingestellt wird“.
Noch ein Argument spricht für Videobefragungen: Für Betroffene sei es oft eine Tortur, alles mehrfach erzählen zu müssen, sagt Katharina Göpner vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. Dieser fordert neben Fortbildungen in Polizei und Justiz auch eine Sonderzuständigkeit für Sexualstraftaten an Gerichten. Rücksichtsvolle Befragungen könnten nur mit entsprechendem Wissen erreicht werden, was Rücksichtnahme in diesem Feld überhaupt bedeutet.
Zudem müssten alle Betroffenen im Bereich der Sexualstraftaten Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung haben. „Es geht um intimste Details“, sagt Göpner. Bisher sei der Umgang mit Betroffenen vonseiten der Behörden oft retraumatisierend. Wenn sich ein Fall wie anfangs beschrieben etwa in einer Beziehung ereignet, heißt das also auch nach der erfolgreichen Reform des Paragrafen 177 nicht sicher, dass es zu einem Prozess, geschweige denn zu einem Urteil kommt. „Aber trotzdem ist klar: Es ist Unrecht, was passiert ist“, sagt Göpner. Für Betroffene sei das ein enormer Fortschritt.
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